Malka Mai
unterbrochen wurde, spürte sie ihre Angst. Die Angst kroch aus dem Schatten des Kirchengestühls auf sie zu, sie drang mit dem Geruch nach Weihrauch in ihre Lungen, fiel in blauen Streifen aus den hohen Fenstern in ihre Augen und traf dort auf das Bild der Menschen, die ihre Hände hoben und einfach umfielen, stumm, lautlos wie Stoffpuppen.
Die Leute in der Kirche, es waren vor allem Frauen, standen auf, um zu beten, Malka tat es ihnen nach. Sie bekreuzigte sich, wenn sich die anderen bekreuzigten, sie murmelte vor sich hin, wenn die anderen murmelten, kniete, wenn die anderen knieten, und sie senkte den Kopf, als der Priester die Gemeinde segnete.
Sie blieb sitzen und schaute den Leuten zu, die die Kirche verließen. Sie sahen so ruhig aus, Malka konnte es nicht verstehen. Nicht weit von hier passierte etwas Schlimmes, nicht weit von hier fielen Juden wie Stoffpuppen auf die Straße und diese Menschen hier waren ganz ruhig und lächelten sogar vor sich hin. Eine alte Frau mit einem blauen Kopftuch musterte sie lange, Malka zog sich unter ihrem Blick zusammen und machte sich klein, doch dann ging die Frau zum Glück weiter und Malka entspannte sich. Bis die Frau sich plötzlich neben sie schob und ihre Hand nahm. Offenbar war sie zurückgekommen, ohne dass Malka es bemerkt hatte.
»Komm, Kleine«, sagte sie leise, wie es in einer Kirche üblich war. »Komm mit zu mir, ich habe etwas zu essen für dich.«
Malka schaute sie an. Die Frau war alt, sie hatte ein freundliches Gesicht mit freundlichen grauen Augen, soweit sie das sehen konnte, und auch ihre Stimme klang freundlich. Malka stand auf. Sie hatte keine Wahl, hier in der Kirche konnte sie ja nicht ewig bleiben.
Hanna wachte auf und war gefangen in ihrem Traum. Sie wusste nicht mehr, um was es wirklich gegangen war, sie erinnerte sich nur noch, dass sie ein Feiertagskleid trug, das braune Samtkleid, das sie vor zwei Jahren für Minna hatte machen lassen und das ihr jetzt nicht mehr passte. Im Traum trug sie selbst dieses Kleid, aber sie sah nicht aus wie Minna, nicht nur, weil sie dunkler war als ihre Tochter, sondern weil sie anders war, auf eine seltsame, nicht klar zu bestimmende Weise anders. Schon im Traum fand sie sich überheblich, dazu brauchte sie nicht aufzuwachen. Sie ging mit Aleksander eine Straße entlang, immer weiter, sie hätten schon längst irgendwo angekommen sein sollen, aber die Straße nahm kein Ende.
Als sie aufwachte, ging ihr Aleksander nicht mehr aus dem Kopf, den ganzen Tag über lief er neben ihr her.
Was sind denn das für Leute, mit denen du da zusammen bist?, fragte er mit diesem hochmütigen Ton, der ihr früher so gut gefallen hatte. Die sind doch nichts für dich, du brauchst sie dir doch bloß anzuschauen, schmutzige Juden, Landstreicher, Feiglinge, die einfach weglaufen.
Sie schaute ihre Mitflüchtlinge an, sie schaute Aleksander an und wieder dachte sie: Ich hatte mir das alles anders vorgestellt. Ich habe so viel getan, um nicht zu ihnen zu gehören, nicht zu den Frauen und eigentlich auch nicht zu den Männern. Und was ist jetzt aus mir geworden? Wie wird es weitergehen?
Und wie sie reden, sagte Aleksander. Hör nur, was für eine ungebildete Sprache sie sprechen.
Sie drehte den Kopf zur Seite, musterte ihn von oben bis unten und sagte: Halt den Mund und verschwinde. Ich will dich nicht mehr sehen. Nie mehr.
Aleksander zog die Augenbrauen hoch und ging.
Die alte Frau hielt Malka an der Hand und führte sie durch zwei, drei Straßen in ein hässliches, graubraunes Mietshaus, in den zweiten Stock. Ihre Wohnung war klein, sie bestand aus einer Küche und einem winzigen Schlafraum, der eher einem Alkoven glich und in dem nur ein Bett und ein Kleiderschrank standen. Die Frau fragte Malka nach ihrem Namen und sagte dann zu ihr: »Du kannst mich Ciotka 12) nennen.«
12) Ciotka (poln.): Tante
Während Malka in der Küche am Tisch saß, kochte Ciotka Kartoffeln und briet Speck. Sie selbst aß fast nichts, und als Malka ihren Teller leer gegessen hatte, schob sie ihr ihren eigenen, noch halb vollen zu. Malka aß, schon lange hatte sie sich nicht mehr satt gegessen. Ciotka stellte keine Fragen, sie sprach überhaupt nicht, nur manchmal murmelte sie etwas Unverständliches vor sich hin. Nach dem Essen legte sie ein Kirchenblatt vor Malka auf den Tisch und sagte: »Ich komme bald wieder.« Dann verschwand sie.
Malka las, ohne dass sie die Wörter verstand, und wartete. Sie musste lange warten, denn als Ciotka zurückkam,
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