Malka Mai
wurde unsicher, fühlte sich sichtlich unbehaglich. »Dort«, sagte sie, drehte sich um und deutete auf eine Seitenstraße. »Dort, und immer geradeaus.« Dann packte sie schnell ihren Korb und lief, fast rennend, weiter.
Malka bog in die Seitenstraße ein und erreichte bald darauf den Marktplatz. Die Bäuerin von gestern stand wieder da, in der weißen Umgebung leuchteten ihre Äpfel besonders rot. Malka blieb stehen. Die Frau erkannte sie, lachte gutmütig, hielt ihr wieder einen Apfel hin und sagte: »Du kannst aber nicht jeden Tag kommen, sonst werde ich arm, hörst du. Das hier ist der letzte.«
Malka nickte und steckte den Apfel in die Manteltasche. Den würde sie Rafael mitbringen, er liebte Essen und Äpfel gab es im Krankenhaus nur selten. Sie sah sein Gesicht vor sich, strahlend, schmatzend, sah, wie ihm die Spucke aus den Mundwinkeln lief. Vielleicht würde er sogar in die Hände klatschen, das hatte er neu gelernt.
Malka fand die Häuser am Ghettozaun, ging seitlich an dem hohen Mietsblock vorbei und blieb vor dem Loch im Zaun stehen. Nichts war zu hören, keine Schüsse, keine deutschen Stimmen, kein Hundegebell. Einfach nichts. Als wäre es noch Nacht und alle würden schlafen. Aber es war Tag.
Malka kroch durch das Loch und lief quer durch den Garten, der unter der weißen Decke auch fremd aussah. Ihre Füße hinterließen tiefe Abdrücke im Schnee. Zögernd ging sie die Treppe hinunter und machte die Tür auf. Dann fing sie an zu rennen, durch den Gang, durch das Zimmer mit den Särgen, durch den Flur.
Schmuliks Werkstatttür stand offen, er saß auf seiner Pritsche, die Hände auf dem Schoß und schaute sie an, ohne etwas zu sagen. Malka nickte und ging an ihm vorbei.
Oben, im Erdgeschoss, lag niemand auf den Matratzen, auch die Feldbetten waren leer, nur hinten in einer Ecke saß eine Frau. Sie hatte ein Tuch über den Kopf gezogen und wiegte sich vor und zurück, ununterbrochen vor und zurück, als würde sie beten.
Malka ging die Treppe hinauf. Sie fühlte sich auf einmal so schwach, dass sie sich am Geländer festhalten musste. Es war, als wüssten ihre Arme und Beine schon, was die Augen noch nicht gesehen hatten. Das Krankenzimmer war leer, Mottels Bett war leer, Henjas Bett war leer. Alle Betten waren leer. Völlig gefühllos, als wäre sie innen drin tot, ging Malka nach nebenan, in das Zimmer mit den Gitterbetten. Sie nahm den Ball, den sie genäht hatte, aus Rafaels Bett und drückte ihn an ihr Gesicht. Er war noch feucht von seiner Spucke.
Malka konnte nicht weinen. Auch als Schwester Zippi kam und sie in den Arm nahm, blieben ihre Augen starr und trocken, nur Schwester Zippi weinte. »Sie haben alle mitgenommen«, sagte sie immer wieder. »Nur uns haben sie dagelassen, für die nächsten Kinder, die kommen werden. Und die sie dann wieder abholen.«
Sie führte Malka ins Schwesternzimmer und drückte sie auf einen Stuhl. Malka hielt den Ball in der Hand und sagte kein Wort. Den ganzen Tag nicht. Auch nicht am folgenden.
Drei Tage musste Hanna warten , bis der Förster seine Vorbereitungen getroffen hatte, drei Tage, in denen Jadwiga, seine Frau, alles tat, damit Hanna wieder zu Kräften kam.
Wojtek, der Förster, baute einen doppelten Boden für den Schlitten, gerade hoch genug, um Hanna, wenn sie sich flach hinlegte, Platz zu bieten. Über das Holz kamen Pferdedecken, die an den Seiten herunterhingen und so den Spalt zwischen den beiden Bodenbrettern verdeckten, und darauf dann die Körbe mit dem Fleisch geschossener Rehe. Auch ein paar Hasen waren dabei, steif gefroren von der Kälte.
»Ich habe auch in Lawoczne Kunden für das Fleisch«, sagte er, »sogar bis Skole. In diesen Zeiten hat jeder Hunger und ist dankbar, wenn er was bekommt.«
Am folgenden Tag verabschiedete sich Hanna von Jadwiga und ließ sich zwischen die beiden Bretter des Schlittenbodens schieben. Wojtek, der Förster, hatte schon das Pferd vorgespannt, Hanna hörte, wie er mit der Peitsche knallte, dann ging es los.
Sie lag da, konnte sich kaum bewegen. Um sich abzulenken, versuchte sie sich vorzustellen, wie der Schlitten durch den Schnee glitt. Um sie herum war es dunkel. Ab und zu spürte sie einen Ruck, wenn die Kufen gegen ein Hindernis stießen, vielleicht gegen einen Stein, ansonsten war nur das Knirschen des Schnees zu hören, das dumpfe Geräusch der Pferdehufe und immer wieder das Quietschen der Bremsen. Hanna war aufgeregt, bald würde sie Malka sehen, wenn es stimmte, dass sie bei Teresa und
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