Malory 09 - Der geheimnisvolle Verführer
blickte, hätte es ihn fast aus den Schuhen gehauen.
Sie war nicht nur hübsch, nein. In seinen Augen war sie eine Augenweide, die Schönheit schlechthin. Sie war jung, vermutlich Anfang zwanzig. Eine schimmernde Sommerbräune überzog ihre Haut, und ebenholzfarbene Löckchen rahmten die Stirn ihres länglichen und atemberaubend schönen Gesichts. Wenn sie lächelte, bildeten sich zarte Grübchen in ihren Wangen. Und wie fraulich sie war. Kurven wie die ihren kannte er nur aus seinen Träumen.
»Mach lieber den Mund zu, du sabberst ja schon wie ein alter Hund«, sagte Tyrus.
»Könnte sein, dass wir unsere Abfahrt ein wenig nach hinten verschieben müssen.«
Tyrus folgte seinem Blick. »Den Teufel werden wir. Wenn mich nicht alles täuscht, fährt die Augenweide dort unten mit uns mit. Ich bin ihr vorhin unter Deck begegnet. Wenn du willst, erkundige ich mich bei Johnson. Er hat die Passagierliste.«
»Tu das«, antwortete Boyd, unfähig, den Blick von der jungen Frau loszureißen. »Wenn er deine Worte bestätigt, bekommt er einen Kuss von mir.«
»Ich werde mich hüten, ihm etwas davon zu sagen«, entgegnete Tyrus und entfernte sich lachend.
Boyd ließ die Unbekannte keine Sekunde aus den Augen, genoss ihren Anblick in vollen Zügen. Wie ironisch, dass er eben noch darüber sinniert hatte, wie er es am besten anstellen sollte, eine Gemahlin zu finden, und ihm das Schicksal im allernächsten Moment eine mögliche Kandidatin präsentierte. War das Bestimmung? Er staunte noch immer, mit welch verführerischen Rundungen Mutter Natur die Unbekannte gesegnet hatte.
Er musste um jeden Preis ihre Bekanntschaft machen. Wenn sie nicht mit der Oceanus fuhr, würde er an Land bleiben. Falls sie jedoch mitfuhr, so schwante ihm, stand ihm die schönste aller Fahrten bevor. Er wollte jedoch noch ein wenig warten, ehe er von Bord ging. Allmählich schlich sich in sein Gefühl von Aufregung nämlich ein Hauch von Nervosität. Was, wenn sie nur ein hübsches Äußeres hatte, vom Wesen her jedoch kratzbürstig war? Bei Gott, das wäre entsetzlich. Nein, das konnte unmöglich sein. Nur ein barmherziger Mensch nahm sich Zeit, Vögel zu füttern. Und Barmherzigkeit ging für gewöhnlich Hand in Hand mit Liebenswürdigkeit und einem freundlichen Wesen. Ja, genau so war es, sprach er sich Mut zu. Nicht auszudenken, wenn ausgerechnet dieses Frauenzimmer eine Ausnahme von der Regel darstellte.
Im nächsten Moment unterbrach sie die Fütterung, weil sie ein Geräusch vernommen hatte, das auch ihm nicht entgangen war. Von der Reling aus konnte er einen Vogel erkennen, der auf einem Stapel Kisten lag. Bemerkt hatte Boyd ihn schon vorher, doch er sah erst jetzt, dass das Tier verletzt war. Sonst wäre er schon längst von Bord gegangen, um ihn zu Philips, dem Schiffsarzt, zu bringen, damit er ihm helfen konnte.
Boyd, der ein Herz für Tiere hatte, war stets zur Stelle, wenn eines in Not war. Als Kind hatte er sehr zum Leidwesen seiner Mutter in regelmäßigen Abständen verletzte Tiere nach Hause gebracht. Es hatte ganz den Anschein, als wäre die junge Frau dort unten von derselben Gesinnung, denn sie hatte sich bereits auf die Suche nach dem Quell der kläglichen Laute gemacht. Boyd vermutete, dass der Vogel sich bemerkbar machte, weil sie Futter verteilte, er es aber nicht schaffte, zu ihr zu fliegen. Er bezweifelte, dass die junge Frau den verletzten Vogel von unten aus sehen konnte, beobachtete sie aber dabei, wie sie um die Kisten herumlief und schließlich den Blick nach oben richtete.
Mit hastigen Schritten ging Boyd von Bord. Sein Gefühl sagte ihm, dass die schwarzhaarige Schönheit jeden Augenblick versuchen würde, auf die Kisten zu klettern, um den Vogel zu retten, was nicht ganz ungefährlich war. Der Stapel, der aus fünf Kisten bestand, war doppelt so hoch wie sie, und statt verschnürt zu sein, wie es sich gehörte, waren die Kisten einfach zu einer Pyramide aufgestapelt worden – unten die größeren und oben die kleineren, damit sie nicht von allein umstürzten.
Doch Boyd kam zu spät. Sie hatte bereits die dritte Reihe erklommen und streckte die Hand nach dem Vogel aus, um ihn in den Korb zu locken.
Boyd biss sich auf die Zunge, aus Angst, dass sie, wenn er das Wort an sie richtete, das Gleichgewicht verlieren könnte. Das war auch der Grund, warum er Abstand davon nahm, ihr hinterherzuklettern. Er würde unter keinen Umständen zulassen, dass sie sich wehtat. Nein, er würde erst wieder an Bord gehen, wenn sie
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