Malory
errötete der Junge, der offenbar beleidigt war, und mit einem finsteren Blick zu Percy hinüber sprach er zum ersten Mal. »Hab noch nie so einen hübschen Lackaffen gesehen, das ist alles.«
Beim Wort »hübsch« musste Percy lachen; Jeremy dagegen fand das gar nicht komisch. Der Letzte, der ihn hübsch genannt hatte, war dafür ein paar Zähne losgeworden.
»Das musst du gerade sagen; du siehst doch aus wie ein Mädchen«, konterte er.
»Ja, das tut er wirklich«, pflichtete Percy ihm bei. »Du solltest dir ein paar Haare auf den Wangen wachsen lassen, zumindest bis deine Stimme ein, zwei Oktaven tiefer wird.«
Wieder wurde der Junge rot und brummelte undeutlich: »Da kommt halt nichts – noch nicht. Bin erst fünfzehn, glaub ich jedenfalls. Nur groß für mein Alter.«
Jeremy hätte vielleicht Mitleid für den Jungen empfunden, denn sein »glaub ich jedenfalls« deutete darauf hin, dass er nicht wusste, in welchem Jahr er geboren war. Das war in der Regel bei Waisenkindern der Fall.
Doch noch zwei andere Dinge waren ihm gleichzeitig aufgefallen. Die Stimme des Jungen hatte zunächst hell geklungen und war dann in eine tiefere Tonlage gekippt, als steckte er gerade in der peinlichen Phase des Stimm-bruchs. Jeremy glaubte allerdings nicht, dass die Stimme von allein nach unten gerutscht war; dazu hatte der Wechsel zu künstlich geklungen.
Das Zweite, das ihm bei näherem Hinsehen auffiel, war, dass der Bursche nicht nur gut aussah, sondern eine echte Schönheit war. Das Gleiche hätte man nun auch über Jeremy sagen können, als er in diesem Alter gewesen war, nur dass er dabei männlich gewirkt hatte, dieser Junge dagegen eindeutig mädchenhafte Züge trug. Die zarten Wangen, die üppigen Lippen, das kecke Näschen – und noch einiges mehr. Das Kinn war zu schwach ausgeprägt, der Hals zu schlank, sogar die Körperhaltung war allzu verräterisch, zumindest für einen Mann, der die Frauen so gut kannte wie Jeremy.
Dennoch hätte Jeremy womöglich nicht seine Schlüsse daraus gezogen, zumindest nicht sofort, wenn sich nicht seine Stiefmutter ebenso verkleidet hätte, als sie seinem Vater zum ersten Mal begegnet war. Sie hatte unbedingt nach Amerika zurückkehren wollen, und die einzige Möglichkeit dazu schien damals zu sein, sich als James’ Kabi-nenjunge zu verdingen. Natürlich hatte James von Anfang an gewusst, dass sie kein Junge war, und so wie er es erzählte, hatte er einen Heidenspaß daran gehabt, zum Schein auf ihr Spiel einzugehen.
In diesem Fall konnte Jeremy sich jedoch auch täuschen; das war zumindest nicht völlig auszuschließen.
Andererseits irrte er sich selten, wenn es um Frauen ging.
Nun, es bestand keine Veranlassung, die Kleine bloß-
zustellen. Welchen Grund sie auch immer hatte, ihr Geschlecht zu verbergen, es ging nur sie etwas an. Jeremy war zwar neugierig, doch hatte er schon vor langer Zeit gelernt, dass Geduld sich in solchen Fällen am meisten auszahlte. Abgesehen davon wollten sie nur eines von der Kleinen – ihre Geschicklichkeit.
»Wie heißt du denn, Junge?«, fragte Jeremy.
»Geht Sie ein feuchten Dreck an.«
»Ich glaube, ihm ist noch nicht ganz klar, dass wir ihm einen Gefallen tun wollen«, bemerkte Percy.
»Pah, eine Falle ...«
»Nein, nein. Betrachte es eher als Gelegenheit zu arbeiten«, korrigierte Percy.
»Quatsch, eine Falle«, beharrte ihr Dieb. »Und auf Ihr Angebot pfeif ich, egal was es ist.«
Jeremy zog eine schwarze Augenbraue hoch. »Bist du nicht wenigstens ein klein wenig neugierig?«
»Nä«, entgegnete der Dieb dickköpfig.
»Wie schade. Das Schöne an Fallen ist ja, dass man nicht aus ihnen herauskommt, es sei denn, man wird be-freit. Sehen wir so aus, als wollten wir dich hieraus befreien?«
»Sie sind nicht bei Trost, so sehen Sie aus. Sie glauben doch wohl nicht, dass ich allein bin? Die anderen kommen mich holen, wenn ich nicht zurück bin wie verab-redet.«
»Die anderen?«
Die Frage brachte Jeremy erneut einen finsteren Blick ein, doch er zuckte nur unbeeindruckt die Achseln. Er bezweifelte nicht, dass die Kleine mit einer ganzen Diebesbande unterwegs war, die einen nach dem anderen zu ihm und Percy hineingeschickt hatte, um die ahnungslosen Adligen auszurauben, die sich in ihr Revier verirrt hatten.
Dass die anderen das Mädchen suchen würden, glaubte er jedoch nicht. Bestimmt waren sie viel eher an dem dicken Geldbeutel interessiert, den sie erwarteten, als an irgendeiner Befreiungsaktion. Wenn überhaupt, würden sie
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