Man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen das muss gar nicht lange dauern
nicht darüber freuen, weil sie es nicht sehen wird. Sie wird am nächsten Morgen gestorben sein. Sie ist einfach zu klein.
4. Katrina
Ein Musical, verspricht die Musiklehrerin. Ein richtiges Musical, mit Scheinwerfern. Mit allem. Zu Weihnachten. Das können wir hinkriegen, wenn alle richtig mitmachen.
Eifriger Lärm bricht los. Bernie wird das Jesuskind, brüllt Tony, der kann nichts anderes. Maria, knutsch mit mir, ruft jemand, lass mich dein Josef sein. Katrina hält sich einen Kugelschreiber vor den Mund und singt mit tiefer, kratziger Stimme. Uno trommelt mit beiden Händen auf die Tischplatte, bis die Musiklehrerin ihn an den Armen festhält. Beruhigt euch. So wird das nichts. Ich verteile die Rollen. Es wird einen Chor und eine Band geben. Wir werden dreimal die Woche proben. Das wird harte Arbeit, Freunde.
Keiner kann sich raushalten, schreit Katrina im Speisesaal, wir stecken alle drin, auch du, Max, und sie schmiert Max einen Löffel Kartoffelbrei in den Nacken. Als Max den Mund aufreiÃt, um zu schreien, stopft sie ihm eine Serviette zwischen die Zähne, das wird harte Arbeit, Freunde. Als der Betreuer sich zu ihr umdreht, hat sie sich schon wieder über ihr Essen gebeugt und malt mit dem Finger Muster in den Kartoffelbrei.
Aber abends, als die Rollläden schon das Blinken der Lichterketten aussperren und Bernies Nachtgeschrei allmählich verebbt, holt sie eine halb abgebrannte Kerze aus ihrer Schreibtischschublade und zündet sie auf der Fensterbank an. Sie schiebt die Finger ineinander und schlieÃt die Augen. Diese Kerze ist für dich, sagt sie leise, wenn ich Maria werden kann. Dann zünde ich sie jeden Abend an. Entschuldige wegen Max. Amen. Schnell öffnet sie das Fenster, damit der Rauchalarm nicht losgeht. Als die Nachtwache später ihren Kopf ins Zimmer steckt und schnüffelt, liegt Katrina ruhig mit dem Gesicht zur Wand.
Als die Musiklehrerin in der Aula die Rollen vergibt, ist es sehr still. Sie zählt die Chorsänger auf, dann die Hirten, die Könige und ihr Gefolge. Hannes ist Melchior und lächelt, obwohl ihm jemand von hinten feucht ins Ohr pustet. Es gibt Herbergsleute, FuÃvolk und Engel, der Schulleiter selbst wird Kaiser Augustus sein. Katrina zieht die Ãrmel über die Hände wie ein Muff und verschränkt die Finger. Bei Josef, sagt die Musiklehrerin und hebt den Blick, dachte ich an Max. Es ist ganz still. Max reiÃt die Augen auf. Du singst gut, sagt die Musiklehrerin. Jemand zischt, aber der ist doch ein lahmer Hund. Den muss man doch an die Krippe schieben. Du kannst es dir einen Tag lang überlegen, sagt die Musiklehrerin. Josef lieber Josef mein, grölt jemand von hinten. Wir können auch alles abblasen, sagt die Musiklehrerin müde, wenn ihr nicht ruhig seid.
Katrina bewegt den Kopf hin und her, der zwischen den verspannten Schulterblättern festklemmt, und schaut die Reihen entlang. Beine wippen, Finger zappeln, eine scharrt mit den FüÃen, ein anderer schlägt rhythmisch mit dem Hinterkopf gegen die Nackenstütze. Ein Summen und Schnaufen liegt über der Gruppe, auch wenn niemand spricht. Wir können gar nicht ruhig sein, denkt Katrina, selbst wenn wir wollten. Lynn wird Maria sein, sagt da die Musiklehrerin. Wenn sie zustimmt. Lynn, ein stilles dünnes Mädchen in der hinteren Reihe, richtet sich auf und hebt fassungslos die Hände. Katrina schlieÃt kurz die Augen, ich bin zu krumm, denkt sie, sie können keine krumme Maria gebrauchen. Dann dreht sie sich schnell zu Lynn um und ruft, Maria am Stock, toll. Ein Lachen geht durch die Reihen. Die Musiklehrerin knallt die Liste heftig auf den Tisch, dreht sich um und verlässt die Aula.
Im Lehrerzimmer scharen sich die Kollegen um die Musiklehrerin und reden auf sie ein. Manche legen ihr die Hand auf die Schulter und versprechen Mithilfe, die meisten wollen das Musical sofort absagen. Du machst dich kaputt, sagt der Werklehrer, du reibst dich nur auf, und dann wird es sowieso nichts. An dieser Schule muss man realistisch denken, fallen andere ein, nicht nach den Sternen greifen, du fällst auf die Schnauze, und für die Kinder ist es einfach zu anspruchsvoll.
Dann fangen sie doch an zu proben. In den ersten Tagen finden Max und Lynn Kritzeleien in ihren Heften, Kaugummi an ihren Tischen und ein Kondom im Proberaum. Lynn beiÃt sich auf die dünne Unterlippe und schaut zu Max hinüber, der in sich zusammengesunken in
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