Man lebt nur ewig
sah uns der Reihe nach an, schüttelte wieder den Kopf und fuhr sich mit der Hand über die rotbraunen Stoppeln, die irgendwann in den letzten zweiundzwanzig Stunden auf seinem Kinn erschienen waren. Während er sprach, starrte er aus dem Fenster auf die grellen Lichter von Moe’s Restaurant und der Stadt im Hintergrund. »Die Rüstung wehrt jede Art von Projektil ab, die es gibt. Sie ist resistent gegen Feuer, kann nicht zerrissen werden und hält einem Druck stand, der dem in den größten Mee- restiefen entspricht.«
»Wie steht es mit Kälte?«, fragte ich und freute mich, als Vayl mir einen stolzen Blick zuwarf. Seine wahr- scheinlich stärkste Kraft bestand darin, seiner Umgebung Wärme zu entziehen, und das so schnell, dass schon Leu- te erfroren waren, wenn sie sich in seinem Einflussbereich befanden.
Doch Bergman schüttelte wieder den Kopf. »Kälte wird ihre Reaktionen verlangsamen, sie aber nicht zerstören.«
»Wasser?«, schlug Cole vor.
»Wenn die Haube geschlossen ist, wird die Rüstung zum Selbstversorger. Sie verfügt über ein internes Beat- mungssystem, das problemlos funktioniert, wenn ihr Trä- ger untertaucht.«
»Erzähl uns mehr über diese Haube«, bat ich.
»Sie aktiviert sich automatisch, wenn sie wahrnimmt, dass sich der Träger in Gefahr befindet. Und sie ist der
einzige Teil der Rüstung, der willentlich deaktiviert wer- den kann. Der Rest funktioniert dauerhaft.«
Cassandra meldete sich zu Wort. »Du hast am Ende angefangen, obwohl die wichtigsten Details am Anfang liegen könnten. Wie sieht diese Rüstung aus?«
Bergman zuckte mit den Schultern. »Wir haben sie an allen möglichen Tieren ausprobiert, unter anderem an Fischen, Katzen und Affen. Sie sah an jedem Tier anders aus, wahrscheinlich weil sie sich mit jedem auf eine andere Art verbindet, abhängig von der Körperchemie, der Grö- ße, der Spezies …«
Cassandra wedelte ungeduldig mit der Hand, worauf- hin Bergman frustriert die Augenbrauen hochzog. »Bitte nur einen allgemeinen Überblick«, schränkte sie ein.
»Schuppen«, verkündete Bergman. »Das Material be- steht aus Tausenden von individuellen Einheiten, die phy- sisch und chemisch miteinander verbunden sind. Die Far- ben variieren genauso wie die Textur. An dem Fisch war sie rau, fast wie Stahlwolle. An dem Affen war sie weicher, elastischer.«
»Wirkt sie rein defensiv?«, erkundigte sich Cole. Auch eine hervorragende Frage. Meine Güte, heute Abend lie- fen wir aber wirklich auf allen Zylindern.
»Nein.« Bergmans Blick wurde leidenschaftlich, als er uns die offensiven Fähigkeiten beschrieb, die mir eine Gänsehaut über den Rücken jagten, weil ich einen Weg finden musste, sie zu umgehen. »Wenn die Haube akti- viert ist, kann der Träger verdampfbare Chemikalien ent- zünden, die in den Nasenöffnungen gespeichert sind.«
»Was soll das heißen?«, fragte ich. »Willst du uns erzäh- len, der Typ kann Feuer spucken?«
»Genau das.«
»Was noch?«, fragte Vayl.
»Kontaktgift in den Krallen, durch das das Opfer ge- lähmt wird. Abtrennbare Spitzen am Rücken, die so exakt ausbalanciert sind, dass sie präzise auf ein Ziel in einem Umkreis von zwölf Metern geschleudert werden kön- nen.«
»Und wenn sie auftreffen?«, fragte ich.
»Dann explodieren sie.«
Ich spürte, wie meine Schultern herabsanken. Heilige Scheiße! Das hier ist definitiv die beschissenste Mission …
Vayl unterbrach meinen Gedanken, was wahrscheinlich auch ganz gut war. Es hatte keinen Sinn, mich mehr run- terzuziehen als unbedingt notwendig. »Aber genau des- wegen wurde diese Aufgabe uns übertragen. Wir können es schaffen. Und wir werden es schaffen.«
Diese kleine Aufbaurede sorgte irgendwie dafür, dass wir uns anderen Dingen zuwenden konnten. Während Cole uns zum Festivalgelände fuhr, diskutierten wir über die Konstruktion unserer Bühne. Wir würden sie heute Abend aufbauen, während Vayl uns helfen konnte. Wir sprachen auch über unseren Auftritt, wobei uns bewusst wurde, dass wir wohl den gesamten nächsten Tag damit verbringen mussten, zu üben, wenn wir eine auch nur annähernd unterhaltsame Show auf die Beine stellen woll- ten. Ich fragte mich allerdings auch, wie es sein konnte, dass ein zweihunderteinundneunzig Jahre alter Vampir und eine tausend Jahre alte Seherin so gar keine Ahnung hatten, was für eine Kreatur mir da begegnet war, die vor- gegeben hatte, ein Mensch zu sein.
3
A ls wir auf den uns zugewiesenen Parkplatz fuhren, be- merkten Cole und
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