Man lebt nur ewig
konnte.
»Ich bin eine alte Frau, weißt du«, sagte sie kläglich.
Ich beugte mich zu ihr und tätschelte ihre Hand. »Sei nicht so hart zu dir selbst. Selbst im Moment siehst du keinen Tag älter aus als siebenhundert.«
Ihr Lächeln war zittrig, aber es hielt. »Ich habe die ers- ten Jahre meines Lebens in Seffrenem verbracht.«
»Nie gehört.«
»Das ist eine verlorene Stadt, die heute tief im Wüsten- sand versunken ist. Aber einst war es ein Zentrum der Kunst, des Handels und der Religion. Alle Götter lebten dort, jeder in seinem eigenen Tempel. Und ich war das Orakel des größten von allen, Seffor. Die Menschen reis- ten monatelang, nur um zu meinen Füßen zu knien und meine Prophezeiungen zu hören. Sie brachten mir Gaben, seltene Edelsteine, Nahrung und Felle. Sie behandelten mich wie eine Göttin. Und mit den Visionen, die ich hat- te, ist es da ein Wunder, dass ich mich irgendwann wirk- lich für göttlich hielt?«
Darauf wusste ich keine Antwort. Ich wusste, wofür ich mich gehalten hatte, nachdem ich die umfassende, dröh- nende Stimme von Raoul gehört hatte, und das war kei- neswegs so erhaben gewesen.
»Wie die Götter gelacht haben müssen«, sagte Cassan- dra bitter. »Sie wussten, was mich erwartete. Vielleicht hatten sie die ganze Tragödie sogar selbst inszeniert.« Sie schwieg und hing den Gedanken über ihre Vergangenheit nach, während Cole und ich versuchten, nicht in unseren Sitzen auf- und abzuhüpfen und zu schreien: »Welche Tragödie, welche Tragödie?«
Schließlich fuhr sie fort: »Eines Morgens erwachte ich
aus einer Vision, die so grauenerregend war, dass ich fast zusammengebrochen wäre. Ich sah, wie mein Ehemann von seiner Stute Faida abgeworfen wurde und unter ihren Hufen starb. Ich erzählte ihm, was ich gesehen hatte, aber er lachte nur. Er hatte Faida von klein auf trainiert. Sie war ein liebes, gehorsames Tier, und kein bisschen schreck- haft. Er sagte, meine Schwangerschaft mache mich ner- vös. Es war meine dritte, und ich war schon im vierten Monat.«
Sie schluckte mühsam, als hätte sie ein Messer an der Kehle. »Er starb noch am selben Nachmittag. Niemand sah die Schlange, die Faida biss, sodass sie sich panisch aufbäumte, ihn abwarf und dann mit ihren wirbelnden Hufen seinen Schädel zertrümmerte. Alles, was die Män- ner, die bei ihm waren, mir sagen konnten, war, dass Faida wenig später verendet war. Am nächsten Tag verlor ich das Baby.«
Sie sah uns schmerzerfüllt an. »Seitdem war es immer das Gleiche. Ich kann die, die mir nahestehen, nicht ret- ten, weil sie nicht an meine Visionen glauben.«
Cole und ich schwiegen überwältigt. Es war einfach nicht möglich, ein so langes Leben wirklich zu begreifen. Aber die Liebe. Und den Schmerz. Da konnte ich eine Verbindung schaffen. Und ich bewunderte stets die Über- lebenden.
»Die Leute hören nur das, was sie hören wollen«, sag- te ich schließlich. »Einer der idiotischeren menschlichen Züge, aber einer, der seine Vorteile hat. Wenn zum Bei- spiel jemand sagt: ›Sei nicht blöd, du wirst niemals ein Heilmittel für AIDS finden.‹ Das ist ein hervorragender Moment, um vorübergehend taub zu werden.«
»Und was willst du hören?«, fragte sie mich.
»Dass du erleichtert bist, weil wir dir glauben«, sagte
ich mit einem schnellen Blick zu Cole. Er nickte bestä- tigend.
»Wisst ihr, was das bedeuten könnte?«, fragte er uns. Wir schüttelten die Köpfe. Er nahm Cassandras Hände und strich über den zerkratzten Nagellack und die rissi- gen Nägel. »Ich denke, die Götter haben gerade aufgehört zu lachen.«
14
D a wir unser Dessert schon gehabt hatten, entschieden wir, dass es Zeit war für ein gesundes Mittagessen. Während Cole drei Dosen Ravioli öffnete und Cassandra Orangenbrause anrührte, rief ich Evie an.
»Jaz, es ist etwas Wundervolles passiert!«
Gott sei Dank. Ich kann jetzt wirklich ein paar gute Neuigkeiten gebrauchen. »Was denn?«
»E. J. hat die ganze Nacht geweint.«
»Fantastisch!«
»Okay, ich weiß schon, dass du nicht siehst, warum das gut sein soll. Aber du musst verstehen. Da sitzen wir also um vier Uhr morgens, nur sie und ich, im Schaukelstuhl neben ihrer Wiege, und weinen uns beide die Augen aus. Und plötzlich geht mir ein Licht auf. Das ist absoluter Bockmist!«
Ich hielt den Hörer vom Ohr weg und starrte ihn an. Evie flucht nicht. Ich meine, niemals. Endlich ging mir auf, wie extrem die Situation war. »Und was ist dann pas- siert?«
»Ich habe Tim
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