Man lebt nur zweimal
Kindern spiele, hat sicher auch damit zu tun, dass ich so spät noch einmal Vater geworden bin. Die Natur wird sich was dabei gedacht haben, dass sie die Menschen normalerweise früh zu Eltern macht und mit 65 in den Ruhestand schickt. Als Vito geboren wurde, war ich 54. Normalerweise wechselt man in diesem Alter keine Windeln mehr. (Man denkt vielleicht eher schon darüber nach, bald selbst wieder welche zu tragen.)
Klar, es hat auch Vorteile, ein alter Vater zu sein. Ich schreibe bewusst nicht »älterer Vater«, sondern »alter Vater«. Es ist in meinen Augen eine dumme Sitte der Gesellschaft geworden, das Wort »alt« nicht mehr aussprechen zu wollen. Obwohl es auf der Erde mehr alte Menschen und ältere alte Menschen gibt als jemals zuvor, sind sie offiziell und linguistisch verschwunden, weil man selbst die ältesten der Alten nur als »die Älteren« bezeichnet. Wenn fünf Hundertjährige zusammenstehen und jemand sollte sie bitten beiseitezutreten, würde er sagen (oder brüllen):
»Könnten die älteren Herrschaften vielleicht Platz machen?«
Wenn die Hundertjährigen ähnlich sprachphilosophisch unterwegs wären wie ich, dürfte sich eigentlich keiner von ihnen von der Stelle rühren.
Auf alle Fälle ist man in meinem Alter weniger belastbar als mit jungen Jahren. Auch was Lärm betrifft. Lautes Kinderspielzeug ist bei uns tabu. Freunde oder Bekannte, die lautes Spielzeug mitbringen, kommen auf die schwarze Liste.
Auf meinen Top Ten der akustischen Schwerverbrechen stehen zum Beispiel hektische Computerspiele ganz weit oben. Sie kommen gleich hinter Motorsägen, Zahnarztbohrern und Presslufthammern. Das Einzige, was ich wirklich gerne laut höre ist Musik (wenn’s kein Free Jazz ist).
Obwohl, wenn meine Kinder spielen und sich ausnahmsweise mal vertragen – wenn sie dann jauchzen, lachen und vor Freude laut kreischen – das ist dann auch wie Musik in meinen Ohren. Im Grunde ist es heute sogar meine Lieblingsmusik.
HELIKOPTER-ELTERN
Gelegentlich kommt es in Erziehungsfragen zu Patt-Situationen: Was den einen Elternteil freut, ärgert den anderen. So geschehen zum Beispiel an einem schönen Spätsommertag bei uns auf der Terrasse.
Viktoria und ich saßen bei Kaffee und Kuchen. Vito war noch ein Baby. Dementsprechend lieb lag er in seiner Wiege, und Maya spielte vor uns auf der Terrasse. Genauer gesagt, sie klaubte Blätter vom Boden auf, stopfte sie in eine Kiste, um dann was weiß ich mit ihnen zu machen. Mit der Verzückung eines liebenden Vaters beobachtete ich sie dabei, während ich Vito wippte. Viktoria erzählte mir irgendwas von Handwerkern, die wieder mal nicht gekommen waren. Es war das reinste Familienidyll. Hätte uns jemand fotografiert – Magazine wie Schöner Wohnen oder Eltern hätten keine Sekunde gezögert, und uns auf ihren Titel platziert.
Maya schienen die Blätter auf dem Boden ausgegangen zu sein, deswegen pflückte sie jetzt welche von einem Zierbaum, der auf unserer Terrasse stand.
»Maya, lass das bitte. Du darfst nur die Blätter nehmen, die du auf dem Boden findest«, ließ ich sie wissen.
»Warum?« Ich hätte meine nagelneuen Golfschläger darauf gewettet, dass sie diese Frage stellen würde. Und wie jedes Mal traf mich die Frage dennoch gänzlich unvorbereitet. Warum durfte sie nicht ein paar Blätter vom Bäumchen pflücken?
»Weil …« sagte ich lang gezogen, mit Blick auf meine Frau, »weil …«, Viktoria tat so, als würde sie meinen Blick nicht bemerken, »weil … ich das nicht möchte.« Nun sah mich Viktoria doch an. Solche rhetorischen Schwächen war sie von mir nicht gewohnt. Das war ja wohl auch das dämlichste aller Argumente und für wissensdurstige Kinder wie die unsrigen gänzlich unbefriedigend. Das heißt, wie man es nimmt. Es eröffnete ihnen andererseits die Möglichkeit, so unmittelbar und wie gnadenlos nachzuhaken:
»Warum?«
»Weil wir die Bäume gekauft haben, damit wir sie anschauen können und nicht, damit du ihnen die Blätter abzupfst«, stellte Viktoria mit einer Logik fest, um die ich sie fast ein wenig beneidete.
Man sah Maya an, dass sie sich auf die Lippen beißen musste, um nicht noch einmal »warum« zu fragen. Gehorsam unterbrach sie das Gezupfe.
Brav ist sie schon, dachte ich noch stolz, bevor ich meine Kaffeetasse in die Küche brachte. Ich war nämlich ebenso brav und befolgte nach über fünfzig Jahren noch die Regel, die meine Mutter mir seinerzeit eingebläut hatte: ›Gehe nie mit leeren Händen in die Küche‹.
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