Man lebt nur zweimal
meiner Wand veranstaltete, konnte mir bei aller Gelassenheit nicht gefallen. Ute hatte mir das wohl angesehen und rief ihre Tochter zur Ordnung: »Schatz, was machst du denn da? Hör sofort auf damit und setz dich zu uns.« Sie wandte sich mir wieder zu und setzte ihren Monolog fort.
Ich rede morgens nicht viel. Hab ich noch nie. Die meisten meiner Freundinnen haben das schnell verstanden und morgens meinen Part einfach mit übernommen. Nur wenige auf Gleichberechtigung getrimmte Mädchen stellten auf stur und schwiegen nach dem Aufstehen ebenfalls. Ich nannte das dann das Shaolin-Frühstück. Ute gehörte aber nicht zu denen. Im Gegenteil. Sie war glaube ich ganz froh, wenn ihr Partner nicht zu viel sprach.
Klara nahm sich nun die gegenüberliegende Wand vor. Die von ihr bereits malträtierte sah aus als wäre sie von 12 manisch depressiven Kindern aus einem antiautoritären Kindergarten zwei Wochen lang bearbeitet worden. Vielleicht wollte uns das Mädchen auf diese Weise irgendwie mitteilen, dass es eigentlich Hilfe brauchte. Zumindest war es ein stiller Ruf nach Aufmerksamkeit. Oder eine laute Bitte um eine Tracht Prügel.
Ute nahm meinen immer noch besorgten Gesichtsausdruck wahr und unterbrach kurz ihren Redeschwall, um sich zu der Tochter zu drehen:
»Ich hab dir doch gesagt, Klara, du sollst damit aufhören und dich zu uns setzen.« Sie wandte sich wieder zu mir und erzählte mir weiter von ihrer Freundin, die seit drei Jahren mit einem Typen zusammen war, den sie eigentlich zum Kotzen fand. Ich sah zu Klara, die immer hektischer kritzelte und sich bereits in den Putz der Wand gearbeitet hatte. Dann zu Ute, die ungerührt vor sich herplapperte. Bevor Klara bis zu meiner unflexiblen Nachbarin ins Wohnzimmer vorgestoßen wäre, musste ich eingreifen. Halbherzig forderte Ute ihre Tochter nochmals auf, zu uns zu kommen. Vergebens.
»Was machst du hier eigentlich?« fragte ich, selbst überrascht, wie viele Worte ich morgens hintereinander herausbrachte. Ute holte Luft.
»Wie?«
»Was du hier die ganze Zeit veranstaltest?« Ute verstand nicht, was ich von ihr wollte.
»Du hast deine Tochter jetzt vier Mal gerufen und sie ist nicht gekommen.«
»Ja. Und?« Ihr schien das als Anhaltspunkt für eine Diskussion zu wenig. Mir allerdings war das schon häufiger aufgefallen.
»Und nachdem sie vier Mal nicht gekommen ist, hast du aufgegeben.«
»Na und? Wir waren gerade im Gespräch.« Ach so nannte sie das, wenn sie stundenlang auf mich einredete.
»Das machst du auch, wenn du nicht abgelenkt bist. Du fragst sie ein paar Mal was, sie antwortet nicht und du lässt es darauf beruhen.«
»Na und?«
»Das ist das Schlimmste, was du deinem Kind antun kannst«, sagte ich. »Nicht nur, dass du dein Kind nicht erziehst, du verziehst es regelrecht. Du ermutigst es, nicht zu gehorchen.«
Ich gab an diesem Tag noch ein paar weitere altkluge Phrasen in Sachen Erziehungsfragen von mir. Wie gesagt, es ist ein schwieriges Thema. Ich finde, gerade alleinstehende Frauen tun sich mit der Konsequenz oft schwer. Sie müssen beide Funktionen ausfüllen: die der umsorgenden Mutter und die des strengeren Vaters. Ein ständiger Spagat, der meist auf Kosten einer Seite geht.
Viktoria und ich lassen den Kindern ziemlich viel durchgehen. Wir sind weder autoritätsversessene Feldmarschälle noch überängstliche Supereltern. Die sollen sich schon auch austoben und ausprobieren. Bevor ich mal etwas sage, muss schon einiges passieren. Aber wenn man etwas sagt, muss man auch darauf bestehen. Das machen in meinen Augen viele Eltern falsch. Da kommt es gar nicht aufs Milieu an, auch in den sogenannten besseren oder den vermeintlich anspruchsvolleren akademischen Kreisen beobachte ich das ständig.
Wir möchten zum Beispiel, dass die Kinder nicht so viel mit elektronischen Geräten spielen. Dazu zählen natürlich auch Computer und Fernseher. Ich will nicht, dass die Kinder so lange davorsitzen. Daher dürfen Vito und Maya unter der Woche gar nichts im Fernsehen sehen, und am Wochenende einen Film am Tag – wenn etwas Schönes läuft, so etwas wie Aschenputtel oder ein besonders lustiger Kinderfilm zum Beispiel, oder sie dürfen mal ein Computerspiel spielen.
Von dieser Regel gibt es sogenannte »Ausnahmen«, was Vito und Maya dann zu der grammatikalisch besonders reizvollen Frage führt: »Kann ich eine Ausnahme?« Man sollte sich möglichst vorher entscheiden, ob man die erlauben möchte oder nicht. Wer sich dann durch unendlich viel
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