Man lebt nur zweimal
Weinschorle. Das klappte wunderbar. Ich saß in meiner damaligen Schwabinger Lieblingskneipe, einem Stehitaliener namens Rosario (für die Klugscheißer – jawohl, man kann auch in einem Stehitaliener sitzen). Hier war ich vom Wirt über die Toilettenfrau bis hin zum Hausmeister mit allen per Du. Es war ein wunderbarer Tag. Ich hatte nur Schorle getrunken und wähnte mich bereits glücklich und auf dem besten Wege zum Softi unter den Spritern.
»Geht doch«, dachte ich mir. »Ist ja doch nicht so schwierig, von dem Zeug wieder runterzukommen«. Als der Laden um 18 Uhr schloss, legte Rosario mir die Rechnung auf den Tisch. Laut Beleg hatte ich 43 Weinschorlen getrunken. Rosario war zwar dafür bekannt, dass er hin und wieder mit der Gabel aufschrieb – aber selbst wenn es nur 35 waren – da hätte ich eigentlich gleich ’ne Flasche Wodka trinken können.
Man sollte also aufpassen, dass man sich nicht selber betrügt. Beim Runtertrinken muss man sehr streng sein. Tatsächlich jeden Tag ein bisschen weniger, bis man bei null angelangt ist.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich den Geschmack des vorerst letzten Tropfens besonders ausgekostet hätte.
Mein Problem war vielmehr ein psychologisches, und das tat sich schon deutlich früher auf. Als ich die Menge des täglichen Alkohols so weit reduziert hatte, dass von einer Wirkung schon nichts mehr zu spüren war, kristallisierte sich aus dem früheren Nebel ein neues Gefühl heraus, das deutlich unangenehmer war: das Gefühl entsetzlicher Langeweile.
Das Problem mag banal klingen. Das tat ja nicht weh und machte auch nicht wirklich traurig – es war noch nicht mal ein handfestes Unwohlsein. Aber ich bekam doch starke Zweifel, ob ich diesen Schritt wirklich gehen wollte. War das mein Ziel? So ein dröges Leben? Wozu? Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich die nächsten vierzig Jahre in diesem faden Modus verbringen sollte. Es kam mir alles freud- und sinnlos vor.
Wenn man etwas getrunken hatte, fühlte man sich automatisch besser unterhalten von dem, was um einen rum passierte. Es war natürlich übertrieben zu sagen, dass der Alkohol der Umgebung automatisch ein paar sattere Farben, der Musik ein paar hellere Töne und den Gedanken eine amüsantere Note hinzufügte. Aber irgendwie sorgte er dafür, dass man in einer besseren Stimmung war, dass alles zugleich mehr Spaß machte und weniger langweilig wirkte. Irgendwie gefühlsgesättigter, auch wenn das ein komisches Wort ist. So wie ein guter Hollywood-Film im Vergleich zu einem Autorenfilm der 1970er.
Wenn ich nicht gedreht habe, saß ich früher tagelang in Kneipen und habe Karten gespielt und gesoffen. Nachts ging es dann durch die Diskotheken und Clubs. Ich wusste einfach gar nicht, wie ich diese viele freie Zeit auf einmal anders füllen sollte. Ich hatte es ja seit Jugendzeiten so gehalten.
Ich dachte mir dann: Du hältst es jetzt mal einfach einen Tag lang aus. Ein Tag, was ist das schon. Ein verdammt überschaubarer Zeitraum. Einmal Frühstück, Mittag-, Abendessen. In der Zeit kann man einmal Sportschau gucken, mit seiner Frau kuscheln oder ein bisschen Gitarre spielen. Dann musste man eh schon wieder schlafen gehen. Am nächsten Tag das gleiche Spiel. Diesen Tag willst du nicht trinken. Ich dachte nicht: O Gott, jetzt muss ich noch vierzig Jahre ohne Alkohol aushalten. Sondern nur: bis 22 Uhr, und dann gehste doch sowieso schlafen.
Es war natürlich trotzdem schlimm. Mir machte nichts mehr richtig Spaß. Das Abenteuer, das Kitzeln und Prickeln war weg. Ob ich nun zu Hause war oder im Urlaub oder in der Stadt oder auf einer Filmpreisverleihung – langweilig!
Da ist es bis zum Rückfall nicht weit. Denn das Teufelchen fängt sofort an, einem ein paar miese Verlockungen ins Ohr zu flüstern: »Da bin ich doch lieber tot, als so ein Leben zu führen – das ist ja wie lebendig begraben!« »Heiner, Heiner, was bist du für ein Langweiler geworden, jetzt sei mal nicht heiliger als der Papst.« »Trink doch einfach ein bisschen weniger, du musst doch deshalb nicht gleich ganz aufhören!«
Wenn ich merkte, dass meine Gedanken zu sehr um den Alkohol kreisten – wieder das Mantra: Noch ein Tag. Den schaffst du noch. Dann schauen wir weiter.
Und wenn ich hier auch keine Geheimrezepte oder tiefgründigen Botschaften mitzuteilen habe, so möchte ich doch zumindest ein Versprechen abgeben: Dieser Zustand ändert sich. Versprochen. Auch wenn man es sich anfangs überhaupt nicht
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