Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Man lebt nur zweimal

Man lebt nur zweimal

Titel: Man lebt nur zweimal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heiner Lauterbach
Vom Netzwerk:
letzten zehn Jahren nicht ein einziges Mal. Ich bin in der Regel eine Viertelstunde vor dem Termin da. Was viele Freunde von mir verzweifeln lässt, weil sie vergeblich versuchen, einmal vor mir zu einer Verabredung zu erscheinen. Ich habe mir das mal angewöhnt, weil ich es irgendwann leid war, mich hetzen zu lassen. Früher fuhr ich immer so los, dass ich den Termin gerade noch rechtzeitig schaffte, geriet dann aber immer wieder in Stress, weil etwas dazwischenkam. Entweder ein Stau, oder man traf jemanden, der ausgerechnet in dem Moment dringend mit einem sprechen musste, oder plötzlich war am ganzen Münchner Flughafen kein einziges Taxi zu bekommen – was auch immer. Deswegen baue ich mir seit vielen Jahren eine Sicherheit von 15 Minuten ein, was natürlich zur Folge hat, dass ich sehr oft überpünktlich erscheine. Aber das nehme ich für ein stressfreies Leben in Kauf.
    Ich erwarte diese Pünktlichkeit nicht von meinen Mitmenschen. Jeder kann mal zu spät kommen (außer mir). Nur wenn mich ein Mensch immer wieder warten lässt, kann ich ungemütlich werden. Denn die Zeit ist ein kostbares Gut. Eigentlich steht es niemandem zu, sie anderen wegzunehmen. Genauso wenig, wie man anderen Leuten Geld aus der Tasche stiehlt.
    Diesen jungen Mann hier sollte ich ja zum ersten Mal treffen. Er hatte also nichts Schlimmes zu erwarten. Ärgerlich war nur, dass sich durch seine Verspätung die ganzen Nachfolgetermine seiner Mitbewerber auch verschoben. Wir hatten das Vorsprechen im 45 Minuten-Takt angesetzt. Obwohl so gar nichts Akademisches an seiner Erscheinung auszumachen war, kam er also exakt diese akademische Viertelstunde zu spät.
    Der Bewerber war Anfang zwanzig, also genau im richtigen Alter für diese Rolle. Er kam herein, gab uns die Hand und nuschelte etwas, dass man mit viel Phantasie als seinen Namen und eine Entschuldigung interpretieren konnte. Während ich hoffte, dass sich die Deutlichkeit seiner Aussprache im Laufe unseres Beisammenseins steigern würde, stellte ich fest, dass sein Händedruck genau aus der falschen Kombination bestand. Also nicht hart und trocken, sondern weich und feucht. Wenn ich mir nicht sicher bin, wie ich einen Mann zu beurteilen habe, stelle ich mir vor, mit ihm im Schützengraben an einer imaginären Front zu liegen. Ich frage mich dann: ›Würdest du mit dem in diesem Schützengraben liegen wollen?‹ Aber so weit musste ich in diesem Falle gar nicht gehen.
    Er hatte eine dieser Hosen an, die mich zwangen, immerzu hinzugucken. Weil sie ständig drohten, vollends über den Hintern in die Kniekehlen zu rutschen und zudem vermutlich Unterhosen zum Vorschein bringen würden, die man eigentlich nicht sehen wollte. Von dem weißen Hintern in ihnen ganz zu schweigen.
    Ich beschloss, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich sein Schauspielvermögen, und wir fingen mit der Arbeit an. Das heißt, wir wollten anfangen, mussten aber leider feststellen, dass der junge Mann seinen Text nicht gelernt hatte. Er nuschelte wieder etwas wie »Is mir nicht klar gewesen, dass ich den lernen musste. Kann ich ihn nicht vorlesen?« Doch wir hatten genug gesehen. Ich bedankte mich für sein Erscheinen und schickte ihn nach Hause.
    Da wir nun unerwartet viel Zeit hatten, bis der Nächste eintreffen sollte, machten wir eine Zigarettenpause. Ich hatte damals gerade wieder angefangen, Zigarillos zu rauchen und war in diesem Moment sehr froh darüber. Jetzt halfen nur drei tiefe Lungenzüge.
    Während wir auf den nächsten Kollegen warteten, sprachen wir über unsere eigene Anfängerzeit und darüber, dass früher alles besser war. Ja, das ist keine Redensart, das ist die Realität.
    Dann kam der nächste Kandidat. Immerhin nur fünf Minuten zu spät. Er war ebenfalls im richtigen Alter und wie man heute sagt, von kräftiger Statur. Ich sah ihn mir an und überlegte, ob es in einem voll besetzten Theater unter Umständen einen Zuschauer geben könnte, der glauben würde, dass er mein Sohn war. Mit seinen gut und gerne 110 Kilo hätte er den Sohn eines Sumu-Ringers spielen können, aber der spielte in unserem Stück leider nicht mit. Ich bin eigentlich kein Mensch, der sich über andere lustig macht. Man muss da auch sehr vorsichtig sein. Vielleicht war er krank. Ein Bekannter hat mir zum Beispiel mal was von einer Alzheimer-Bulimie erzählt. Das sollen Leute sein, die den ganzen Tag essen und abends vergessen, sich zu übergeben.
    Zumindest hatte das jugendliche Schwergewicht mal einen Blick in

Weitere Kostenlose Bücher