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Man lebt nur zweimal

Man lebt nur zweimal

Titel: Man lebt nur zweimal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heiner Lauterbach
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motivieren. Ich komme dann nach Hause und sehe die Dinge plötzlich mit anderen Augen. Ich freue mich, ein schlichtes Gespräch zu führen und genieße die Normalität, die andere für langweilig halten würden.
    Außerdem versuche ich nach wie vor, mich zu verbessern. Das ist ein schwer zu erklärendes Vergnügen: Wenn ich es schaffe, andere davon zu überzeugen, dass ich der bin, den ich da gerade auf der Bühne verkörpere, das verschafft mir eine ganz eigentümliche Art von Befriedigung. Kinder kennen das vielleicht auch, diese Freude am Spiel und am Aufgehen in einer Rolle.
    Allerdings mache ich mich immer bedingungslos zum Anwalt meiner Figur. Ich kann niemanden spielen, der ich nicht sein will. Habe ich mich einmal dazu entschlossen, werde ich ihn rechtfertigen. Und bis zum Letzten verteidigen. Bedingungslos. Selbst einen Kinderschänder, wenn es sein muss, so widerlich mir seine Taten auch erscheinen. Ich kann die Figur in dem Moment nicht verleugnen.
    Ich habe sogar einen Mann gespielt, der seine eigene Tochter missbraucht hat – und auch in dieser Rolle hatte ich den ganz starken Wunsch, dass der Zuschauer mich versteht. Im ehemaligen Haus der Hypovereinsbank in München war ein Gerichtssaal originalgetreu aufgebaut, und ich stand an meiner Anklagebank und musste eine kleine Rede halten, zu meiner Verteidigung. Ich habe erklärt, wie es zu den Misshandlungen gekommen ist und dass ich das alles nicht verstehe, die Anschuldigungen und Wut der anderen Menschen, weil ich meine Tochter doch über alles liebe.
    Im Anschluss kam die Regisseurin zu mir und sah ein wenig besorgt aus. »Heiner, wir haben jetzt fast ein Problem«, sagte sie zu mir. »Das war fantastisch, du hast das sehr überzeugend gespielt. Aber der Kinderschänder wird mir auf einmal zu sympathisch.«
    Was wäre eigentlich so schlimm daran, habe ich mich danach gefragt. Was ist dagegen einzuwenden, dass sich der Zuschauer einen Moment lang dabei erwischt, Mitleid mit einem Täter zu empfinden? Selbst bei einer so grausamen Tat? Es steht außer Frage, dass ich nichts so verachtenswert und schändlich finde. Dass Kinder unseren bedingungslosen Schutz brauchen sowieso. Und dass diese Menschen lebenslang weggesperrt gehören. Sich an Schwächeren zu vergreifen ist das Allerletzte. Aber darf man nicht trotzdem mit dem Täter mitfühlen? Schließt das eine das andere wirklich aus? Waren es nicht sehr oft grausame Umstände, die sie zu dem werden ließen, was sie heute sind?
    Den meisten Menschen ist eine Welt am liebsten, die sie klar in Schwarz und Weiß einteilen können. Aber man muss Ambivalenzen auch aushalten können. Vielleicht besteht das Leben eben nicht nur aus klaren Zuordnungen.
    Ich fände es nicht nur langweilig und eindimensional, einen bösen Menschen einfach nur böse darzustellen. Es ist auch in den meisten Fällen falsch. Ein schlechter Mensch kann auf den ersten Blick auch wahnsinnig nett und charmant sein. Man weiß von Serienmördern, dass sie oft überangepasst und besonders freundlich agieren. Gerade das macht es doch so unheimlich. Man hört schon die Nachbarn sagen: »Dass ausgerechnet der das gewesen sein soll, hätte ich mir nie vorstellen können!« »Der hat doch seinen Müll immer so brav heruntergebracht. Und meinen noch dazu. Das war so ein netter Kerl.«
    Ich würde sagen, es gibt sogar so etwas wie eine moralische Pflicht, das Böse in all seinen Schattierungen zu zeigen. Wenn man Hitler spielt, darf man ihn eben nicht einfach nur als wüstes Rumpelstilzchen darstellen. Dadurch verengt man die Figur und macht sie unglaubwürdig. Gerade große Diktatoren hatten meistens auch sehr einnehmende Seiten, sonst wären sie wohl kaum so weit gekommen.
    Anfang 2012 habe ich einen Frauenmörder gespielt, der mindestens neun Frauen umgebracht hat. Den gibt es wirklich, ich habe die Briefe gelesen, die er aus dem Gefängnis geschrieben hat, an die Mutter des Regisseurs, eine Psychologin. In einer Szene werde ich im Knast von einer Journalistin interviewt. Und ich erzähle ihr aus meiner Kindheit. Wie ich vergewaltigt wurde im Kinderheim. Unter welchen Umständen ich aufgewachsen bin. Wie meine Frau mich unterdrückt hat. Und was all die Gewalt und die Demütigungen aus mir gemacht haben. Auch in dieser Szene mache ich mich zwangsläufig zum Anwalt meiner Person. Ich kann als Schauspieler gar nicht anders. Sonst hätte ich meinen Beruf verfehlt.
    Dass ich die Rolle des Frauenmörders angenommen habe, verdanke ich Viktoria. Ich war

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