Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
ich konnte ihr auch nicht die Wahrheit sagen. Ich wollte ihr sagen, wie sehr ich sie liebte, dass diese Liebe aber verschwand wie bei meinem Vater, wenn er Soldat und kein Ehemanngewesen war. Das Gefühl überkam mich wie eine unbewusste Erinnerung, die mit einem Brüllen ans Licht drängt, zwangsläufig unerwartet und schmerzhaft wie Pestbeulen, die, aus Drüsen tief im Nacken gespeist, aufplatzen.
»Ähm«, sagte ich.
Aura lachte.
»Leonid?«
»Ähm … ja, Aura.«
»Ich weiß, ich habe dich hingehalten. Das ist und war nicht fair, doch ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte. Ich hab in einer Klemme gesteckt. Ich liebe dich so sehr, aber du machst mir Angst.«
Ein Auto hupte. Aus irgendeinem Grund wurde ich dadurch auf eine Frau aufmerksam, die gut zehn Meter entfernt an einer Ecke nahezu zusammenhanglos vor sich hin schimpfte. Die Leute hetzten an ihr vorbei im Takt ihrer vom Zufall bestimmten Leben. Soweit schien alles in Ordnung. Das Leben war eine Ansammlung von Missklängen. Das hatte ich immer gewusst. Hin und wieder gab es inmitten der Dissonanz ein Stück wunderschöner Musik, doch Klarheit war eine Gefahr in einer irrationalen Welt – das hatte mein Vater mir ebenfalls beigebracht. Was Aura sagte, klang logisch. Sie sagte, ich machte ihr Angst.
»Leonid?«
»Ja.«
»Hast du vor, auch was zu sagen?«
»… Wichser will mir sagen, was ich machen soll«, schrie die schimpfende Frau, »dabei hat er nicht mal einen Blinddarm …«
»Klar«, antwortete ich. »Ich meine, ich will schon was sagen, aber ich weiß nicht was.«
»Liebst du mich?«
»Wie Seegras das Sonnenlicht«, assoziierte ich frei.
»Ich liebe dich.«
»… und die Nigger wär’n Cowboys, und alle Weißen würden weinen …«
»Was kann ich tun, Aura?«, fragte ich.
»Ich will dich zurück in meinem Leben.«
Tiefe Stille senkte sich über mich. Die Leute, der Verkehr und die verrückte Frau, alle stellten ihren Lärm ein, und mein Kopf war wie ein Ovum, ihre Worte waren der befruchtende Samen. Sonst drang nichts durch. Sonst war nichts wichtig.
Ich vergaß, wohin ich lief, und kämpfte gegen den Wunsch an, mich auf die Bordsteinkante zu setzen. Ich wusste nicht genau, was ich wollte; stattdessen war ich ein anderer geworden, verwandelt von einem Begehren, das ich tot geglaubt hatte.
»Leonid.«
»Aura.«
»Hast du mich gehört?«
Ich nickte.
»Leonid.«
»Ja, ich habe dich gehört. Ich höre dich.«
»Bin ich zu spät?«
»Wenn du mich das als Erstes gefragt hättest, hätte ich wahrscheinlich Ja gesagt.«
»Können wir es noch mal versuchen?«
»Ich brauche zweiundsiebzig Stunden, um diese Frage zu beantworten«, sagte ich. Ich wusste nicht mal warum. »In zweiundsiebzig Stunden sage ich dir, was ich tun kann.«
»Ich geb dir einundsiebzig«, sagte sie und brachte mich zum Lächeln.
»Ich ruf dich an, um …«, ich sah auf meine Uhr, »… 16.17 Uhr in drei Tagen.«
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Ich melde mich.«
Er nahm nach dem ersten Klingeln ab. »Kitteridge.«
»Sie haben angerufen?«, fragte ich.
» LT «, begrüßte er mich. »Gut, von Ihnen zu hören.«
»Was ist das Problem, Captain?«
»Ich möchte, dass Sie mit jemandem reden.«
»Und mit wem?«
»In Flatbush gibt es eine Pointdexter Street, eine kleine Nebenstraße.«
»Kenn ich.«
»Nummer sechsundzwanzig. Sie müssen nur Lethford sagen.«
»Und warum gehe ich dorthin?«
»Weil Sie nicht wollen, dass Ihre Kinder Halbwaisen werden.«
Ich hatte Kits Nummer gewählt, um mich aus dem Taumel der Benommenheit zu reißen, in den mich Auras Anruf gestürzt hatte. Es funktionierte.
»Jemand will mich umbringen?«, fragte ich.
»Ich glaube, Ihr Name könnte irgendwo auf einer Liste stehen.«
»Was sollte denn das für einen Sinn ergeben?«
»Halten Sie sich für so unschuldig, dass Ihnen niemand jemals etwas tun würde?«
»Nein. Ich frage mich bloß, was es Sie kümmert?«
»Ich bin Polizist, LT . Es ist mein Job, selbst die Unversehrtheit von Abschaum wie Ihnen zu schützen.«
Ich beendete das Gespräch. Kein Grund für Protest oder Widerspruch. Mich interessierte Kits hörbare Wut. Er zeigte nur selten Gefühle. Ich auch nicht so oft. In einem anderen Leben hätten wir vielleicht Freunde sein können.
23
Obwohl es schon früher Abend war, schien noch die Sonne auf Brooklyn. Ich erreichte die Adresse in der Pointdexter Street um kurz nach sieben. Ein grau gekleideter Mann, der aussah wie ein Obdachloser, hockte in der Tür
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