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Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman

Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman

Titel: Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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eine kleine Narbe unter dem Kinn. Oft dachte ich, dass dieser kleine hervorstechende Makel ihn noch perfekter machte, weil er der Welt zeigte, dass diese attraktive Verkörperung eines Mannes immer noch ein Mensch war.
    »Wie geht’s, Twill?«, fragte ich.
    »Ich kann nicht klagen.«
    »Hast du diese Woche schon deinen Bewährungshelfer getroffen?«
    »Heute Nachmittag. Er hat gesagt, ich würde mich prima machen.«
    Twill sah einem immer in die Augen, wenn er mit jemandem sprach.
    »Irgendwelche Mädchen am Start?«, fragte ich.
    Er zog die Schultern hoch, ohne irgendwas preiszugeben.
    Im Gegensatz zu vielen seiner Freunde nannte Twill Mädchen nicht Bitch oder Schlampe, aber nicht, weil ihn dieser Umgangston empörte.
    So reden die Leute halt , hatte er mir einmal erklärt. Ich mach es nur deshalb nicht, weil es sich bei mir irgendwie nicht richtig anhört .
    »Ist alles okay?«, fragte ich.
    »Es ist, wie es ist, Pops.«

9
    Die Kulisse des Traumes verändert sich im Laufe der Zeit, aber im Kern bleibt er immer gleich.
    Ich befinde mich in einem brennenden Gebäude und laufe durch ein Labyrinth lodernder Flure. In diesem speziellen Albtraum komme ich an eine Treppe und frage mich, ob sie nach draußen führt. Aber an der Tür schlagen mir Flammen entgegen. Ich laufe durch eine andere Tür in ein brennendes Büro. Schwer atmend haste ich, an Rauch und heißer Luft würgend, weiter von Zimmer zu Zimmer.
    Ich erreiche ein anderes Treppenhaus, das jedoch von qualmenden Balken versperrt ist. Ich versuche, sie aus dem Weg zu räumen, verbrenne mir an dem glühenden Holz jedoch die Hände und weiche zurück. Ich gerate ins Taumeln, fange mich wieder und laufe stolpernd weiter. Plötzlich sehe ich am Ende eines brennenden Flures ein Fenster. Ich mache einen Schritt darauf zu, und der Boden unter meinen Füßen gibt nach. Ich verlagere das Gewicht auf den linken Fuß und mache einen langen Satz über das klaffende Loch. Die Wände stehen jetzt in Flammen. Nach jedem Schritt bricht der Boden hinter mir ein. Ich renne weiter auf das Fenster zu und bin gleichzeitig sicher, dass ich es nicht erreichen werde. Beim Laufen steigt Qualm von meinen Kleidern auf. Meine Sinne geraten durcheinander: Ich sehe das zerstörerische Knacken der Flammen und höre die gleißende Hitze. Mein Verstand brennt, und vor allem meine Seele strebt auf die Freiheit jenseits des Fensters zu.
    Unvermittelt stehe ich auf festem Boden vor der riesigen, rußblinden Scheibe. Es gibt keinen Griff, um das Fenster zu öffnen. Ich renne zurück in das Flammenmeer, um einen kokelnden Balken zu holen. Obwohl ich mich verbrenne, ramme ich ihn wieder und wieder gegen das Glas, bis es sich dehnt, nachgibt und endlich zersplittert. Durch den Scherbenregen schaue ich in den schönsten blauen Himmel, den ich je gesehen habe. Der zerbrochene Rahmen und der brennende Balken taumeln immer noch tausende von Metern tief zur Erde. Hinter mir pulsieren Flammen und Hitze. Das Tageslicht lockt mich, der Wind ist erfrischend, und im Grunde habe ich keine Wahl.
    Ich kann mich nicht an den Sprung erinnern, nur an das Gefühl, durch die eisige Atmosphäre zu stürzen. Der kalte Wind lässt meine verbrannte Haut gefrieren, saubere Luft saugt den Teer aus meinen Lungen. Ich hatte gedacht, der freie Fall wäre still wie die letzten Augenblicke eines Films, wenn der Ton aussetzt, während der Held, der eine Stadt vor einer Horde Banditen beschützt hat, niedergeschossen wird.
    Aber es ist laut; es brüllt in meinen Ohren wie ein hungriges Raubtier im Dschungel.
    Die Erde rast mit tödlicher Gleichgültigkeit auf mich zu.
    Nach Luft schnappend schreckte ich hoch, die Hände ausgestreckt, um den tödlichen Sturz zu bremsen. Im Fernsehen wurde ein neuartiges Trainingsgerät für die Bauchmuskulatur beworben. Katrina, die ohne die Gesellschaft ihres geliebten Fernsehens nicht einschlafen kann, lag weggetreten neben mir.
    Wie ein Sprinter nach einem Rennen musste ich heftig durchpusten, bis mein Atem wieder normal ging. Meine Brust schmerzte, und ich wollte nur noch laut schreien. Schweißnass zitterte ich vor Kälte am ganzen Körper.
    Ich träume nie von meinen Opfern, doch ihr Andenken sind Mörtel und Stein jenes brennenden Gebäudes.
    Der Wecker neben meinem Bett zeigte 5.06 Uhr an.
    Ich konnte den Gedanken an eine weitere Mahlzeit mit meiner Halbfamilie und meiner heuchelnden Frau nicht ertragen.
    Ich wusste, dass Katrina nur so nett zu mir war, weil sie sich mit der Aussicht

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