Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman
konfrontiert gesehen hatte, im mittleren Alter auf der Straße zu sitzen. Wenn sie morgen einen neuen Andre Zool treffen würde, wäre sie Ende der Woche weg.
Ich rollte mich aus dem Bett und ging in mein Arbeitszimmer, wo ich immer einen Satz frische Kleidung aufbewahrte.
Auf der Straße zündete ich mir eine von Ambrose Thurmans Camels an und ging zum Broadway. An einem Kiosk an der Ecke kaufte ich die Daily News , die ich noch auf der Straße zu lesen begann. Vielleicht wäre ich dennoch vorangekommen, wenn nicht Regentropfen auf meine Nase und meinen linken Daumen gefallen wären.
Das ist Jesus, der dich mit seinen Tränen küsst , flüsterte meine Mutter aus dem Grab. Sie hatte meinen Vater bedingungslos geliebt, aber seine atheistische Ideologie hatte sie nie akzeptiert.
In der U-Bahn konnte ich nicht lesen, weil mich die Enge an die verzweifelte Panik aus meinem Traum erinnerte. Ich stellte mir vor, wie das Feuer durch den U-Bahnwaggon fegte und Menschen schreiend mit bloßen Händen die Scheiben einschlugen.
Einen Block entfernt vom Tesla Building gibt es ein Diner. Dort las ich meine Zeitung, während ich ein Sandwich mit Rührei, Käse, Speck, Senf und rohen Zwiebeln aß. Ich überflog den Lokalteil und suchte nach Meldungen über Menschen, die ich in meinem früheren Leben gekannt hatte. Es hatte Morde gegeben, Raubüberfälle, eine Entführung und drei wichtige Verhaftungen, aber nichts davon hatte etwas mit mir zu tun.
Weil ich von dem Albtraum immer noch Herzklopfen hatte, löste ich das Kreuzworträtsel. Ich hatte gerade den Namen eines »Schwarzen Krimiautors« mit fünf Buchstaben eingetragen, als mir auffiel, dass es schon drei Minuten nach sieben war.
Ich ging zum Tesla Building und fuhr mit dem Fahrstuhl in den 81. Stock. Dort hat Aura Ullman ihr Büro. Sie saß immer um Punkt sieben bei der Arbeit.
Die überladenen Flure, die ich am Tag zuvor noch bewundert hatte, machten mich heute nervös, weil sie mich an die Korridore in meinem Traum erinnerten. Als ich das Licht sah, das durch die Milchglasscheibe von Auras Tür fiel, wurde ich ein wenig ruhiger.
»Wer ist da?«, fragte sie auf mein Klopfen.
»Leonid.«
»Komm rein.«
Mit einem Klicken öffnete sich das elektrische Türschloss. Ich stieß die Tür auf und trat ein.
Das Büro bestand aus einem einzigen großen Raum. Wahrscheinlich gab es auch irgendwo ein Fenster, doch man konnte nur raten, wo es sich befinden könnte. An den Wänden reihten sich Reinigungsmittel und Aktenschränke, drei Safes und fünf Schlüsselbretter mit jeweils Dutzenden von Schlüsseln. Zwischen Feuerlöschern, Kartons mit Toilettenpapier, einem Dutzend neuer Wischmops und Farbdosen war ein Gang zu Auras großem schwarzem Metallschreibtisch frei geblieben; an der Decke waren in sechs Reihen Neonleuchten angebracht, die alle grell brannten.
»Wie hältst du dieses Licht aus?«, fragte ich, als ich ihren Schreibtisch erreicht hatte.
»Ich nehme das Leben, wie es kommt«, antwortete sie, und ich musste an Twills sehr ähnliche Philosophie denken.
Ich setzte mich auf den dunkelgrünen Metallklappstuhl vor ihr. Sie schaute von einem großen Register auf, in das sie etwas eingetragen hatte.
»Du hattest wieder diesen Traum, stimmt’s?«, fragte sie.
Sie blickte mir in die Augen, und mir wurde schwindelig. Über einen unordentlichen Schreibtisch hinweg eine Frau anzusehen, die meine Stimmungen so gut kannte, erschien mir wie die Versinnbildlichung meines unmöglichen Lebens.
»Ja«, sagte ich.
»Wovon handelt er?«
Auch als ich neben Aura geschlafen hatte, war ich nachts häufig aus dem gleichen Traum hochgeschreckt. Jedes Mal hatte sie mich gefragt, worum es darin ging,doch ich konnte ihr nicht antworten. Ich hatte das Gefühl, wenn ich den Traum in Worte fasste, würde er irgendwie wahr werden.
»Ich weiß es nicht, Aura. Ich weiß es nicht.«
Sie stand auf, ging zu ihrer uralten Mr.-Coffee-Maschine und goss die starke Brühe in einen Styroporbecher. Sie gab ihn mir, setzte sich auf die Tischkante und blickte auf mich hinab.
So saßen wir drei oder vier lange Minuten. Ich genoss die Atempause, die Momente, in denen ich schweigend mit mir allein und trotzdem in Gesellschaft sein konnte.
»Warum bleibst du bei ihr?«, fragte Aura schließlich.
»Ich weiß nicht ...«, sagte ich und hielt inne.
Ich sah auf und blickte in ihre sturmfarbenen Augen. Sie lächelte, weil sie wusste, dass ich mir eine Lüge verkniffen hatte.
»Es ist mein Strafmaß«,
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