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Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman

Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman

Titel: Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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wieder zu sich kommen.«
    »Warum hast du ihn reingelassen?«, brüllte Fritz seine Schwester an.
    Statt zu antworten, sah das Mädchen mich an. Sie wollte nicht, dass ich irgendetwas machte. Hannah flehte mich stumm an, einfach nur Zeuge von etwas zu sein, was sie jeden Tag oder vielleicht auch jeden zweiten Tag erlebte, während die Spanne dazwischen immer von Furcht beherrscht war.
    Ich dachte: Natürlich will sie, dass ich bleibe . Und natürlich konnte sie mich nicht fragen. Den Impuls begriff ich augenblicklich. Ich wollte ihr helfen, doch ich wusste nicht, wie.
    Also wandte ich meine Aufmerksamkeit Fritz zu, weil ich befürchtete, dass er in seiner Erregung eine Dummheit machen könnte.
    Der Junge stand wie angewurzelt da und zitterte – er bebte am ganzen Körper. Der Tremor wurde stärker. Sein Blick wurde glasig. Bald war auch sein Gleichgewichtssinn betroffen. Als er taumelte, trat ich einen Schritt vor und fing ihn auf. Er war merkwürdig schwer, weil sein ganzer Körper erstarrt war. Als ich ihn auf das Sofa legte, rannte seine Schwester aus dem Zimmer.
    Ich hätte selber die Flucht ergriffen, wenn der Junge nicht Schaum vor dem Mund gehabt hätte. Er schlotterte. Ich sah mich im Zimmer nach einem Gegenstand um, den ich ihm als Keil zwischen die Zähne schieben konnte, damit er sich nicht die Zunge abbiss. Er hatte die blauen Augen aufgerissen und starrte mich anklagend an wie ein Toter seinen Mörder.
    Einen Moment lang verspürte ich tatsächlich den Drang, ihn zu töten, meine Hände um seinen Hals zu legen, wie Willie Sanderson es bei mir getan hatte.
    Ich unterdrückte den Impuls, bevor Hannah ins Zimmer zurückkam. Sie öffnete den Reißverschluss eines Krokodillederkoffers und eilte an die Seite ihres Bruders. Sie nahm eine Einwegspritze aus dem Koffer, die bereits mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt war.
    »Helfen Sie mir!«
    »Was soll ich machen?«, fragte ich.
    »Ziehen Sie ihm die Jacke aus.«
    Es war nicht leicht, doch ich drehte den Jungen auf die Seite, zerrte am Kragen und drückte seine steifenArme nach unten. Als ich ihm die Jacke halb über die Arme gestreift hatte, drängte Hannah sich zwischen uns. Er trug ein kurzärmeliges Hemd, so dass sie problemlos die Vene unterhalb des Bizeps fand und das Medikament fachmännisch injizierte.
    Ungefähr zwölf Sekunden später entspannte Fritz sich und fiel in tiefen Schlaf.
    Hannah setzte sich seufzend auf den Boden.
    Es war ein Familienfoto, das nie gemacht werden würde: eine Schwester, die gerade ihren Bruder gerettet hatte, erschöpft von der lebenslangen Aufgabe, zur Stelle zu sein, wenn ein Notfall passierte. Warum hatten sie keine Krankenschwester? Warum nahm er nicht regelmäßig Medikamente? Weil Hannah da war, um ihn zu retten und die Last seiner Unausgeglichenheit und Raserei zu tragen.
    Sie stand auf und zog ihren Bruder am Arm.
    »Helfen Sie mir, ihn nach oben zu bringen«, sagte sie.
    »Sollten Sie nicht lieber einen Arzt rufen?«
    »Nein. Das passiert dauernd. Er erholt sich gleich wieder.«
    »Haben Sie keine Bediensteten, die Ihnen helfen können?«
    »Sie würden es meinen Eltern erzählen, und dann müsste Fritzie in eine Klinik. Dort hält er es nicht aus. Er bringt sich um, wenn sie ihn wieder einweisen.«
    Ich bückte mich und hob den dünnen Jungen hoch.
    »Wohin?«
    Sie führte mich den Flur entlang zu einer Treppe auf der Rückseite des Hauses. Ich trug den Jungen in ein kleines Zimmer im ersten Stock, voll mit naturwissenschaftlichen Utensilien: einem Mikroskop, einem Teleskop, einer Gesteinssammlung und einem Schmetterlingskasten. An den Wänden hingen keine Poster, und es gab kein Gerät zum Abspielen von Musik. Der Spross einer der reichsten Familien Amerikas hatte nicht mal einen eigenen Fernseher.
    Ich legte ihn auf das schmale Bett und trat ein paar Schritte zurück, während Hannah ihn vollständig auszog und mit einem Laken bedeckte. Dann faltete sie seine Kleider und legte sie auf einen Tisch aus Walnussholz in der Ecke.
    Im Schlaf sah Fritz vollkommen anders aus: älter und völlig erschlagen. Ich betrachtete ihn eine Weile, bis Hannah meinen Arm berührte und wir in den Flur gingen.
    Unter Fritz’ Gewicht ächzend hatte ich die Einrichtung kaum wahrgenommen. Die weißen Teppiche waren aus dicker Schurwolle, die Bilder an den Wänden Originale von Chagall, Picasso und dergleichen.
    »Danke«, sagte Hannah in dem Versuch, ein tieferes Gefühl auszudrücken.
    Ich dachte an die junge Frau, die

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