Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman
in ihrer kleinen Wohnung mit mir geschlafen hatte. Das leise Kribbeln in meiner Brust war die Hoffnung, dass ich vielleicht wirklich ein bisschen von dem, was ich falsch gemacht hatte, wiedergutmachen konnte.
»Nicht der Rede wert«, sagte ich.
»Sie hätten nicht bleiben und mir helfen müssen«, sagte sie. »Sie kennen uns nicht einmal.«
»Das ist schon okay«, sagte ich und legte zwei Finger auf ihre Armbeuge.
Es hatte nichts Sexuelles oder Zweideutiges. Sie winkelte den Arm an und hielt meine Finger fest, um mir zu zeigen, wie viel ihr das Wenige, das ich getan hatte, bedeutete. Und ich verstand sie. Manchmal empfindet man unbewusste, beiläufige Freundlichkeit am tiefsten.
»Ich mag Sie«, sagte sie, und trotz all meiner guten Vorsätze bebte mein Herz.
»Ich muss gehen.«
39
Der Rest des Tages bestand aus der Rückfahrt nach Albany, einer Flasche Wild Turkey und einem traumlosen Schlaf, hingestreckt auf dem breiten Bett im Minerva Hotel; und aus einem mitternächtlichen Anruf von Katrina.
»Hm?«, brummte ich in mein Handy, ein beredter Ausdruck meines Geisteszustands.
»Leonid?«
»Ich bin in Albany, Katrina. Ich muss schlafen.« Die Wörter prallten in meinem Schädel hin und her und erinnerten mich an meinen ältesten und einzigen leiblichen Sohn.
»Ich wollte dir bloß sagen, dass wir irgendeine Lösung finden können«, sagte sie.
»Wir unterhalten uns später.«
Das Nächste, woran ich mich erinnere, war der Morgen, und dass ich mir unsicher war, was meine Frau gemeint und ob sie überhaupt angerufen hatte.
Ich beschloss, mit dem Zug zurück nach New York zu fahren. Nach dem emotionalen Chaos im Hause Hull war der Gedanke an eine weitere Schleuderpartie durch die Luft einfach unerträglich.
Als ich noch ein Kind war und in erzwungener Armut lebte, weil mein Vater sich für die Sache der Arbeiter engagierte, habe ich immer darum gebetet, dass mich eine Familie reicher Kapitalisten adoptieren würde. Indem Tagtraum ging mein Vater fort und kam nie wieder zurück, und Mr. und Mrs. Geldsack beschlossen, mich aufzunehmen, weil ihnen das arme, schwarze, verwaiste Kommunistenkind leid tat.
Mein Vater ging weg, und obendrein starb auch noch meine Mutter, doch ich wurde nie adoptiert. Wenn ich an Fritz und Hannah dachte, beschlich mich unwillkürlich das Gefühl, dass ich womöglich Schwein gehabt hatte.
Während der Zug sich seinen Weg nach Manhattan bahnte, blätterte ich in diversen Zeitungen und Büchern, die ich in meiner Reisetasche mit mir trug. Aber nach einer Weile merkte ich, dass ich mich nicht auf die Lektüre konzentrieren konnte.
Das lag vor allem daran, dass meine in Bourbon aufgeweichten Gedanken immer wieder zu Hannah Hull zurückkehrten. Meistens durchschaue ich Menschen ziemlich schnell; das ist in meinem Beruf eine Notwendigkeit. Aber Hannah Hull war mir ein Rätsel. Sie könnte ein psychotisches Kind mit lasterhaften Neigungen sein, auch wenn ich das nicht glauben wollte. Ich wollte glauben, dass sie das Opfer einer vom Weg abgekommenen Familie war und in mir einen Mann sah, auf den man sich verlassen konnte – einen Fels in der Brandung.
Das war die Rolle, in die ich mich hineinträumte, seit ich meine zwielichtigen Gepflogenheiten aufgegeben hatte. Ich wollte so gesehen werden, wie ich hoffte, dass Hannah mich sah.
Es war beinahe komisch, wie ich von diesen sprunghaften Gefühlen hin und her gerissen wurde. Ein oder zwei Schritte weiter, dachte ich, und ich wäre so verrückt wie Fritz geworden. Die Erkenntnis ließ mich lächeln.
»Was gibt’s da zu grinsen?«, fragte ein Mann verächtlich. »Das Leben da draußen ist hart. Sehen Sie mich lächeln? Ich hab keine Zeit zum Rumalbern. Ich muss die Miete bezahlen und zusehen, dass alle Schuhe an den Füßen haben. Das Leben ist ernst, Mann, kein Spaß.«
Die Stimme kam von der anderen Seite des Gangs und gehörte dem männlichen Oberhaupt einer jungen schwarzen Familie mit Mutter und einem Kind. Der Junge war höchstens vier, vielleicht auch jünger. Sein Vater war Anfang zwanzig. Die Mutter, eine sanft und schlicht aussehende Frau, blickte in meine Richtung und lächelte schüchtern. Der Junge hatte ob des schweren Tadels seines Vaters den Kopf gesenkt.
Sie hatten alle die gleiche dunkelbraune Hautfarbe.
»Hast du mich gehört?«, fragte der Vater seinen Sohn.
Ich nahm wieder die Zeitung zur Hand und suchte etwas, das mich ablenken konnte. Die Titelgeschichte handelte von einem Gouverneur im Mittleren Westen, der
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