Manhattan Karma: Ein Leonid-McGill-Roman
Ich kann mich nicht erinnern, ob sie eine Familie hatte. Wer sind diese Menschen?«
»Der eine ist vor siebzehn Jahren gestorben«, sagte ich. »Der andere hat vor zweiundsiebzig Stunden versucht, mich umzubringen.«
»Er hat wirklich versucht, Sie umzubringen?« Sie rutschte auf die Sofakante.
»Wirklich wirklich.«
»Und Sie glauben, dass mein Vater etwas darüber weiß?«
»Ich glaube, dass er vielleicht etwas über Paxton oder Sanderson weiß.«
»Mord ist das schlimmste Verbrechen, das ein Mensch begehen kann«, sagte sie.
»Jedenfalls steht es auf der Liste ziemlich weit oben«, sagte ich.
»Ich möchte Pilotin werden«, sagte sie noch einmal, »aber ich studiere Philosophie.«
»In Wellesley.«
»Ja. Woher wissen Sie das?«
»Die Reichen können nicht viel vor den Leuten verbergen«, erwiderte ich und dachte, dass ich die gleichenWorte von meinem Vater gehört hatte, allerdings in vollkommen anderer Absicht.
»Ich schreibe ein Referat über Anarchismus«, fuhr sie fort und tat mein unaufrichtiges marxistisches Geschwätz mit einem Schulterzucken als belanglos ab. »Es geht um Menschen, die glauben, sie seien moralisch verpflichtet, das Schicksal ihrer Opfer zu teilen. Mit anderen Worten, der Mörder muss Selbstmord begehen, damit seine Absichten rein bleiben. Was halten Sie davon?«
Ich hatte das Gefühl, jemand hätte mir in die Leber gestochen. Der Schmerz hatte nicht mit Karmen Brown begonnen, sondern ging viel weiter zurück, eine Wolke, die über meinem ganzen Leben gehangen hatte. Es kam nur selten vor, dass mich jemand Fremdes so tief berührte. Ich sah das Mädchen an. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich, aber nichtsdestoweniger eindringlich.
»Ich muss mit Ihrem Vater sprechen«, sagte ich wie ein Automat. »Wann kommt er nach Hause?«
»Meine Eltern sind in unserem Stadthaus«, sagte sie. »Zwei Blocks nördlich und einen halben Block westlich vom Gracie Mansion. Es ist ein großer hässlicher Kasten.«
Ich stand abrupt auf und spürte das Messer in meinen Eingeweiden.
Hannah erhob sich ebenfalls.
Sie streckte die Hand aus, vielleicht, um mich mit einer Berührung meiner Hand aufzuhalten. Aber sie berührte mich nicht.
Ich bin Vater einer Tochter – sozusagen. Ich bin mehr als ein halbes Jahrhundert alt, doch diese abgebrocheneEinladung schien mir ganz natürlich. Für einen Moment gab es eine Verbindung zwischen uns.
Dann brüllte irgendjemand: »Wer zum Teufel sind Sie?«
38
In der Tür des nierenförmigen Zimmers stand ein großer dünner Mann mit abstehendem drahtigem Haar. Er hatte bläuliche Augen und trug einen Ausdruck von Entrüstung im Gesicht, der an Wahnsinn grenzte.
Das war, wie ich wusste, Fritz, Hannahs wenig älterer Bruder. Auch diese ungestüme Unterbrechung schien mir irgendwie natürlich wie ein Moment befreiender Komik in einem Horrorfilm.
Fritz trug eine dunkelgrüne Jacke, eine braune Hose, ein lederfarbenes Hemd und eine rot-schwarze Krawatte. Eine Brille trug er nicht, obwohl sie das kauzige Bild komplettiert hätte.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, wiederholte er, noch lauter als zuvor.
»Du musst nicht schreien, Fritz«, sagte Hannah. »Das ist Mr. McGill. Er wollte Daddy sprechen.«
»Warum ist er in meinem Haus?«
»Es ist auch mein Haus«, sagte die Prinzessin zu dem Nerd.
»Was machen Sie mit meiner Schwester?«, fragte er mich.
Ich fühlte mich unwillkürlich ertappt, wie ein Mann, der auf einer dunklen Straße eine Frau belästigt und unvermittelt von einem Autoscheinwerfer erfasst wird.
»Er macht gar nichts mit mir. Er hat mir gerade erklärt, warum er hier ist.«
»Vielleicht will er uns bestehlen«, sagte Fritz. Seine Erregung steigerte sich zusehends.
»Ich war die ganze Zeit über bei ihm«, widersprach Hannah. »Wie kann er etwas stehlen, wenn wir uns gegenübersitzen und uns ansehen?«
»Er hat Hosentaschen«, bemerkte der Junge, als hätte er im fernen Ozean einen neuen Kontinent entdeckt. »Ich muss ihn durchsuchen. Er könnte etwas eingesteckt haben, als du nicht hingeguckt hast.«
Ich gewann langsam den Eindruck, dass Bryant Hulls Spende für das Sunset Sanatorium eine überaus kluge langfristige Investition gewesen war.
»Das möchten Sie lieber nicht«, erklärte ich Fritz sachlich.
»Und ob ich das will.«
»Nein, wollen Sie nicht.«
»Warum nicht?«, kreischte er.
»Weil ich Boxer bin, und wenn Sie mich anrühren, schlage ich Sie bewusstlos. Und stellen Sie sich vor, was ich dann alles stehlen könnte, bis Sie
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