Manhattan
Walter nicht erkennen konnte, ob es Schmerz war oder ein Symptom der Krankheit.
»Es stellt deinen Glauben auf die Probe, nicht wahr?«, fragte ihn Sarah über seine Schulter hinweg.
»Das tut es.«
»Bist du Christ, Walter?«
Er nickte. »Ein schlechter.«
»Gibt es eine andere Art?«, fragte sie. »Sie hat einen schlimmen Tag hinter sich. Ich weiß nicht, wie lange Bill sie noch bei sich behalten kann. Selbst wenn ich immer rüberkomme … Ich wollte ihr heute Morgen das Haar waschen, aber …«
»Du leistest großartige Arbeit, Sarah.«
Sie knöpfte ihren Mantel zu und setzte sich den Hut auf.
»Eine Stunde?«, fragte sie.
»Zwei, wenn du magst«, erwiderte er. »Ehrlich, ich habe wirklich nichts zu tun.«
Als sie ging, zog er die Schuhe aus und ging ins Schlafzimmer. Auf der Kommode standen Bilder von Bill und Mary in glücklicheren Tagen. Die Fotos zeigten eine auffallend schöne Frau. Dann hatte die Krankheit ihr den Gebrauch ihrer Beine unmöglich gemacht, dann ihre Arme gelähmt, und jetzt hatte das Leiden ihr Rückgrat und die Lungen angegriffen.
Walter hatte die Geschichte von Benoit in der Einsatzzentrale gehört. Dass Bill sie pflegte und ihr die Hand hielt und dass seine Schwester für ihn einsprang, wenn er bei der Arbeit war.
Eines Nachmittags, als er sicher sein konnte, dass Bill an einem Fall arbeitete, ging Walter zu der Wohnung und stellte sich Sarah vor. Nach einigen Mühen gelang es ihm schließlich, sie zu überreden, eine Pause zu machen, und ihr das Versprechen abzunehmen, über alles zu schweigen.
»Warum?«, hatte sie gefragt. »Warum tun Sie das, und warum soll es ein Geheimnis bleiben?«
»Bill ist ein Kollege«, erklärte Walter. Das schien zu genügen.
Mary war es damals ein wenig besser gegangen, und Walter verbrachte an drei Nachmittagen in der Woche ein oder zwei Stunden bei ihr und las ihr vor. Jetzt schlief sie meist, doch er las ihr trotzdem etwas vor.
»Hallo, Schönheit«, flüsterte er, als er ihr mit einem Handtuch die Mundwinkel abwischte. Er ging ins Badezimmer und hielt einen Waschlappen unter den Wasserstrahl, prüfte die Wassertemperatur, bis sie richtig war, ging dann wieder ins Schlafzimmer und wischte ihr behutsam das Gesicht ab.
Ein verblichenes Bild von Jesus, der sanft dreinblickte und ein schwaches, gütiges Lächeln auf den Lippen hatte, hing über dem Kopfende des Bettes.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte Walter zu dem Bild. »Du hättest ein bisschen länger hierbleiben sollen, Kumpel.«
Dann kniete er nieder, zog unter dem Bett ein Buch hervor und setzte sich in den Schaukelstuhl.
»Wo waren wir stehengeblieben, Mary?«, fragte er. Er fand die Stelle in dem vergilbten Taschenbuch, Mickey Spillanes Menschenjagd in Manhattan , und sagte: »Ach ja, richtig. Wir fangen mit einem neuen Buch an.«
Er hüstelte leicht und gab sich die größte Mühe, seiner Stimme einen dramatischen Tonfall zu geben, als er las: »Erstes Kapitel: Niemand ging je über diese Brücke, nicht in einer Nacht wie dieser. Der Regen war so fein, dass er fast wie Nebel wirkte, ein kalter grauer Vorhang, der mich von den bleichen weißen Ovalen trennte, Gesichtern, die hinter den beschlagenen Scheiben der auf zischenden Reifen vorbeifahrenden Autos eingesperrt waren. Selbst das strahlende Leuchten in der Fer
ne, das nächtliche Manhattan, war zu ein paar verschlafenen gelben Lichtern geworden.«
Er las nur wenige Minuten, bevor er das Buch auf den Schoß legte und einschlief.
Er war aus seinem Nickerchen aufgewacht, kurz bevor Sarah wiederkam, hatte ein paar Minuten mit ihr geplaudert, Mary auf die Wange geküsst und war hinausgeeilt. Er war gerade noch rechtzeitig ins Büro gekommen, um mit Mallon und dessen Söhnen einen Eggnog zu trinken, nach Hause zu hetzen, zu duschen, sich zu rasieren und sich in seinen Smoking zu zwängen. Und Anne anzurufen.
»Tut mir leid, Liebling«, sagte er, als sie sich meldete, »aber ich muss heute Abend arbeiten.«
»Sei nicht traurig. Ich muss heute Abend auch arbeiten.«
»Ich wollte aber dabei sein.«
Er erklärte, was es mit der Party im Plaza auf sich hatte.
»Du wirst also den jungen Prinzen und seine Prinzessin beschützen«, sagte sie.
»Strenggenommen nur die junge Prinzessin.«
»Vor dem jungen Prinzen?«
»Vielleicht«, sagte er lachend. »Wenn ich ihr Leibwächter sein soll …«
»Das Scheunentor könnte aber weit offen stehen«, sagte Anne.
»Zieh die Krallen ein.«
»Der junge Prinz ist ein
Weitere Kostenlose Bücher