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Manhattan

Manhattan

Titel: Manhattan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don Winslow
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»Dschungels«, wie Dietz (nicht Upton Sinclair) es nennen würde. Hier bildeten die Columbia University, das Barnard College und das Jewish Theological Center einen Gelehrten-Archipel, der sich bemühte, in einem immer turbulenteren Ozean der Armut und des Verbrechens nicht unterzugehen. (Es ist durchaus erlaubt, dachte er, besonders bei persönlichen Überlegungen, Metaphern durcheinanderzubringen, wenn man sich von der Kälte abzulenken versucht, während man mucksmäuschenstill dastehen muss. Vielleicht war es in erster Linie ein Dschungel und dann erst ein Ozean. Vielleicht eine Dschungel-Insel.) Hier waren
die Lichter nicht so hell, hier streiften eine Reihe von seltsamen Typen unauffällig durch die nächtlichen Straßen – der nachdenkliche Wissenschaftler, der liebeskranke Student, der unruhige Junkie, der künftige Straßenräuber, der Schlaflose, der Irre, der sehnsüchtige künftige Ex-Spion, der den Kopf voller Wunschdenken hatte.
    Er betete – obwohl er die Hände nicht zum Gebet gefaltet hatte, sondern geballt in den Manteltaschen hielt –, sein Zielobjekt nicht schon verpasst zu haben. Er betete nicht um die Vergebung der Sünden, sondern um ihre mögliche Wiedergutmachung.
    Wer immer hinter dieser Sache steckte, würde schnell vorgehen. Sie würden jetzt nervös sein und sich bemühen, die Operation glimpflich zu beenden, die vermutlich zu früh geendet hatte, die sich aber immer noch als Erfolg erweisen konnte – ein großer Erfolg sogar. Doch das würde Zeit erfordern, und darauf baute Walter jetzt, jene kleine logistische Verzögerung, die es ihm ermöglichen würde, rechtzeitig da zu sein. Und tatsächlich kam jetzt Alicia die Treppe herunter – schon mal ein erhörtes Gebet – und er folgte ihr die Straße entlang. Und falls Walter je den Turkey Trot gesehen hatte, dann jetzt. Das arme Mädchen war aufgeregt, verängstigt, befand sich in Gefahr, und für Walter sah das Ganze aus wie Gottes Gnade in Vollendung.
    In wenigen Momenten werde ich wissen, sagte er sich, auf welcher Ebene die Operation sich abspielt. Wenn sie allein geht, dachte er, ist die Sache nicht allzu hoch angesiedelt, dann habe ich noch eine Chance. Wenn jetzt Begleiter auftauchen und ihr folgen und sie sicher und warm halten wie Schutzengel, dann haben wir etwas vollkommen anderes vor uns.
    Doch sollten tatsächlich Schutzengel da gewesen sein, wa
ren sie sehr, sehr gut, denn obwohl die Überwachung auf der Straße in seiner Ausbildung nicht seine stärkste Seite gewesen war (Himmel, was war schon seine starke Seite gewesen?), war er immer noch der Meinung, Verfolger aufdecken zu können, sofern welche da waren. Ansonsten hätten sie ihn entdeckt, und dann läge er schon längst tot in irgendeiner Gasse, zweifellos in einer dunklen Ecke mit einer Messerklinge im Herzen, und außerdem hätte man ihm Brieftasche und Armbanduhr abgenommen. Mit diesem aufmunternden Gedanken im Kopf schätzte er seine Entfernung zu Alicia ab und achtete darauf, dass sie konstant blieb. Wenn es geschah, würde es in nicht allzu großer Nähe zu ihrer Wohnung passieren. Folglich konnte er es sich erlauben, eine Zeitlang etwas Raum zwischen sich und ihr zu lassen, was eine gute Sache war, weil Alicia den Drehwurm hatte, und er erinnerte sich aus der Zeit seiner Ausbildung, dass es das einzige war, was schlimmer war als der Titanic-Fimmel.
    Wenn ein Agent heiße Ware bei sich trägt, hatte der Ausbilder gesagt, kann er oder sie zwei extreme Kopfhaltungen aufweisen. Die eine ist der Titanic-Fimmel: Der Agent geht in aufrechter Haltung direkt auf seinen Bestimmungsort zu und bewegt sich erst dann, wenn er mit dem Eisberg zusammenkracht. Die zweite ist der Drehwurm, was bedeutet, dass der Agent sich ständig umdreht. Der Titanic-Agent will partout keine Gefahren sehen, eine Person mit Drehwurm sieht nichts als Gefahren.
    Und Alicia drehte sich dauernd um. Armes tapferes Mädchen, versuchte, diesen Tick zu beherrschen, doch für Amateure und Dilettanten ist das noch nie das Richtige gewesen, egal, wie sehr sie sich einer Sache verpflichtet fühlen, deswegen bittet man sie ja auch nicht, gleich beim ersten Versuch am tiefen Ende ins Schwimmbecken zu springen. Nein, zu
nächst sollte nur der große Zeh vorsichtig eingetaucht werden – hier ein Botengang, da ein kleiner Gefallen –, bevor der arme Agent merkte, dass er schon bis zum Hals drinsteckte. Erst heißt es: »Jemand kommt zu Ihnen in die Wohnung und gibt etwas ab, was später ein

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