Mann im Dunkel
handelt, sondern um einen wesentlichen Teil dessen, was uns zu Menschen macht. Dann würde sie weniger leiden. Dann läge ihre Welt nicht nach jedem Schicksalsschlag in Trümmern, und sie müsste sich nicht Nacht für Nacht in den Schlaf weinen.
Ich will nicht so tun, als sei eine Scheidung keine schlimme Sache. Unsägliches Leid, lähmende Verzweiflung, rasende Wut und der Druck nimmer weichender Sorgen, der dann, allmählich, in ein Gefühl der Trauer umschlägt, als habe man einen Todesfall zu beklagen. Nur hat Richard Miriam schon vor fünf Jahren verlassen, und man sollte doch meinen, inzwischen könnte sie sich an die neue Situation gewöhnt, sich wieder dem Leben zugewandt und wenigstens versucht haben, eine neue Richtung einzuschlagen. Aber sie hat ihre ganze Kraft in ihre Dozententätigkeit und ihre Schriftstellerei gesteckt, und wann immer ich das Gespräch auf andere Männer zu lenken versuche, fährt sie aus der Haut. Zum Glück war Katya schon achtzehn und mit dem College fertig, als es zum Bruch kam; sie war erwachsen und stark genug, den Schlag abzufedern, ohne daran zu zerbrechen. Miriam hatte viel schlimmer zu leiden, als Sonia und ich uns trennten. Sie war erst fünfzehn, ein Alter, in dem man wesentlich verwundbarer ist, und als Sonia und ich neun Jahre später wieder zusammenkamen, war der Schaden nicht mehr gutzumachen. Eine Scheidung mag schon für Erwachsene kein Zuckerlecken sein, aber die Kinder leiden meist noch viel schlimmer. Sie sind vollkommen machtlos und tragen die Hauptlast der Schmerzen.
Miriam und Richard begingen denselben Fehler wie Sonia und ich: Sie haben zu jung geheiratet. Wir waren beide zweiundzwanzig – nicht ungewöhnlich im Jahr neunzehnhundertsiebenundfünfzig. Doch als Miriam ein Vierteljahrhundert später mit Richard zum Traualtar schritt, war sie genauso alt wie damals ihre Mutter. Richard war etwas älter, vier- oder fünfundzwanzig, glaube ich, aber die Welt hatte sich verändert, und die beiden waren praktisch noch Kinder, Wunderkinder, die in Yale an ihren Dissertationen arbeiteten, und dann bekamen sie binnen zweier Jahre selbst ein Kind. Konnte Miriam wirklich nicht ahnen, dass Richard eines Tages unruhig werden musste? War ihr nicht klar gewesen, dass ein vierzigjähriger Professor, der einen Saal voller Studentinnen unterrichtet, von all diesen jungen Körpern fasziniert sein könnte? Es ist die älteste Geschichte der Welt, aber die fleißige, loyale, hochangespannte Miriam bedachte das alles nicht. Dabei hatte sich doch die Geschichte ihrer eigenen Mutter tief in ihre Seele eingeschrieben – jener furchtbare Augenblick, als ihr Vater, dieser Schuft, nach achtzehn Jahren Ehe mit einer Frau von sechsundzwanzig durchgebrannt war. Ich war damals vierzig. Man hüte sich vor Männern in den Vierzigern.
Warum tue ich das? Warum muss ich immer wieder auf diese ausgetretenen Pfade zurück, woher dieser Zwang, alte Wunden aufzureißen und wieder bluten zu sehen? Kein Mensch kann sich vorstellen, wie sehr ich mich manchmal selbst verachte. Ich sollte mir Miriams Manuskript ansehen, stattdessen aber starre ich auf einen Riss in der Wand und grabe in den Trümmern meiner Vergangenheit nach Dingen, die sich nie mehr reparieren lassen. Ich will in meine Geschichte zurück. Mehr will ich nicht – meine kleine Geschichte, die mir die Gespenster vertreibt. Bevor ich die Lampe ausmache, schlage ich das Manuskript an einer beliebigen Stelle auf und gerate an Folgendes: die letzten beiden Absätze von Roses Erinnerungen an ihren Vater, geschrieben achtzehnhundertsechsundneunzig, eine Schilderung ihrer letzten Begegnung.
Es schien mir ein furchtbar Ding, dass ein so außerordentlich starker, empfindungsfähiger und brillanter Mann wie mein Vater immer schwächer und gebrechlicher und schließlich geisterhaft still und bleich werden musste. Doch während sein Schritt wankend war und seine sterbliche Hülle eher einem Leichnam glich, hielt er sich so würdevoll wie in seinen besten Tagen, wenn nicht in gleichsam soldatischer Selbstbeherrschung gar noch aufrechter als zuvor. Er versäumte nicht, bei Tisch, wo die überaus frugale Kost die Festlichkeit der Mahlzeit nicht zu beeinträchtigen vermochte, in seinem besten schwarzen Rock zu erscheinen. Disziplinlosigkeit und Schwäche waren ihm nicht weniger verhasst als die Feigheit. Ich kann gar nicht sagen, wie tapfer er auf mich wirkte. Zum letzten Male sah ich ihn, als er das Haus verließ, um jene Reise anzutreten, die
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