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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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seine Gesundheit wiederherstellen sollte und ihn dann so plötzlich in die andere Welt hinüberführte. Meine Mutter wollte ihn zum Bahnhof begleiten – sie, die im Augenblick seines Todes, obgleich so fern von ihm, ins Schwanken und Stöhnen verfiel und uns bekannte, etwas scheine ihr alle Kraft auszusaugen; ich konnte es k aum ertragen, am Tag des Abschieds meine Augen auf ihrer eingesunkenen, leidenden Gestalt ruhen zu lassen. Was sie nur undeutlich spürte, wusste mein Vater mit Bestimmtheit: Er würde nicht mehr zurückkehren.
    Wie das Schneebild eines unbeugsamen, aber alten, alten Mannes stand er vor mir und sah mich an. Meine Mutter schluchzte, als sie neben ihm zum Eisenbahnwaggon ging. Seitdem fehlt er uns so sehr, bei Sonnenschein und Sturm, und in der Dämmerung.
     
    Ich knipse das Licht aus, und wieder liege ich im Dunkeln, eingehüllt vom endlosen, wohltuenden Dunkel. Irgendwo in der Ferne höre ich das Brummen eines einsamen Lastwagens auf einer unbelebten Landstraße. Ich lausche der Luft, die durch meine Nasenlöcher strömt. Die Uhr auf dem Nachttisch, auf die ich vor dem Ausschalten der Lampe noch einen Blick geworfen habe, zeigt zwanzig nach zwölf. Noch so viele Stunden bis Tagesanbruch, so viel Nacht liegt noch vor mir … Hawthorne war es gleichgültig. Wenn der Süden sich vom Norden abspalten will, sagte er, dann sollen sie doch, dann sind wir sie los. Die wunderliche Welt, die misshandelte Welt, die wunderliche Welt dreht sich weiter, während überall um uns her Kriege lodern: abgehackte Arme in Afrika, abgehackte Köpfe im Irak, und in meinem eigenen Kopf dieser andere Krieg, ein imaginärer Krieg auf einem eigenen Feld, ein Amerika, das auseinanderbricht, das edle Experiment nun völlig am Ende. Meine Gedanken schweifen nach Wellington, und plötzlich kann ich Owen Brick wieder sehen: Er sitzt an einem Tisch im Pulaski Diner, sieht zu, wie Molly Wald kurz vor sechs die Tische und den Tresen abwischt. Dann sind sie draußen und gehen schweigend nebeneinanderher zu ihrer Wohnung. Auf den Bürgersteigen wimmelt es von erschöpft aussehenden Männern und Frauen, die von der Arbeit nach Hause schlurfen; Soldaten mit Gewehren bewachen die großen Kreuzungen, der Himmel dämmert in Rosa und Grau. Brick hat jedes Vertrauen in Molly verloren. Als ihm klar wurde, dass ihr nicht zu trauen ist, dass er niemandem trauen kann, hat er sich, etwa zwanzig Minuten bevor sie aufbrechen sollten, auf die Toilette des Diners verdrückt und den Umschlag mit den Fünfzigdollarnoten vom Rucksack in seine vordere rechte Hosentasche verfrachtet. Das verringere die Wahrscheinlichkeit, ausgeraubt zu werden, meinte er, und er nahm sich vor, die Hose anzubehalten, wenn er nachher zu Bett ginge. Auf der Toilette machte er sich endlich die Mühe, die Scheine genauer anzusehen, und erblickte zu seiner Beruhigung auf der Vorderseite jeder Note das Bildnis Ulysses S. Grants. Das bewies ihm, dass dieses Amerika, dieses andere Amerika, das vom elften September so wenig weiß wie von dem Krieg im Irak, immerhin starke historische Verbindungen zu dem Amerika hat, das er kennt. Die Frage ist: An welchem Punkt der Geschichte haben sich die Wege dieser beiden Amerikas getrennt?
    Molly, sagt Brick, nachdem sie zehn Minuten lang kein Wort gewechselt haben, darf ich Sie etwas fragen?
    Kommt drauf an, was, antwortet sie.
    Haben Sie je vom Zweiten Weltkrieg gehört?
    Die Kellnerin schnaubt entrüstet. Wofür halten Sie mich eigentlich?, sagt sie. Für eine Schwachsinnige? Selbstverständlich habe ich davon gehört.
    Und Vietnam?
    Mein Großvater war einer der ersten Soldaten, die man dorthin gebracht hat.
    Und was antworten Sie, wenn ich Sie nach den New York Yankees frage?
    Also ehrlich, die kennt doch jeder.
    Was antworten Sie mir?, wiederholt Brick.
    Mit einem entnervten Seufzer dreht Molly sich zu ihm um und erklärt in schnippischem Ton: Die New York Yankees? Das ist die Tanztruppe von der Radio City Music Hall.
    Sehr gut. Und die Rockettes sind eine Baseballmannschaft, richtig?
    Ganz genau.
    Okay. Eine letzte Frage, dann höre ich auf.
    Wissen Sie eigentlich, was für eine Nervensäge Sie sind?
    Entschuldigung. Ich weiß, Sie halten mich für dumm, aber das ist nicht meine Schuld.
    Nein, bestimmt nicht. Sie sind offenbar schon so auf die Welt gekommen.
    Wie heißt der Präsident?
    Der Präsident? Wovon reden Sie? Wir haben keinen Präsidenten.
    Nein? Und wer führt dann die Regierungsgeschäfte?
    Der Premierminister, Sie

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