Mann im Dunkel
Öffnung und lasse es fließen. Das ist stets ein befriedigender Augenblick, wenn die Flut zu strömen beginnt und ich das sprudelnde Gelb in die Flasche schießen sehe, während ihr Glas gleichzeitig in meiner Hand wärmer wird. Wie oft uriniert ein Mensch im Lauf von zweiundsiebzig Jahren? Ich könnte es ausrechnen, aber wozu sich damit abgeben, jetzt, wo die Sache erledigt ist? Als ich meinen Penis aus der Flasche ziehe, werfe ich einen Blick auf den alten Kameraden und frage mich, ob ich je wieder Sex haben werde, ob ich jemals wieder einer Frau begegnen werde, die mit mir ins Bett gehen und die Nacht in meinen Armen verbringen will. Ich schiebe das beiseite, sage mir, ich sollte damit aufhören, denn solche Gedanken führen in den Wahnsinn. Warum hast du sterben müssen, Sonia? Warum durfte ich nicht als Erster gehen?
Ich schraube die Flasche zu, stelle sie an ihren angestammten Platz auf dem Fußboden und breite die Decken wieder über mich. Was jetzt? Das Licht ausschalten oder brennen lassen? Ich will in meine Geschichte zurück und herausfinden, wie es Owen Brick weiter ergeht, aber im unteren Fach des Nachttischs liegen die neuesten Kapitel von Miriams Buch, und ich habe ihr versprochen, sie zu lesen und mit Anmerkungen zu versehen. Durch die vielen Filme mit Katya bin ich in Verzug geraten, und mich quält die Vorstellung, dass ich sie enttäuschen könnte. Also wenigstens noch ein oder zwei Kapitel – Miriam zuliebe.
Rose Hawthorne, das jüngste von Nathaniel Hawthornes drei Kindern, geboren achtzehnhunderteinundfünfzig, bei dessen Tod erst dreizehn Jahre alt, die rothaarige Rose, in der Familie Rosebud genannt, eine Frau, die zwei Leben lebte, das erste elend, schmerzvoll und misslungen, das zweite bemerkenswert. Ich habe mich oft gefragt, warum Miriam sich für dieses Projekt entschieden hat, doch allmählich meine ich zu verstehen. Ihr letztes Buch war eine Biographie über John Donne, den Kronprinzen der Poesie, das Genie der Genies, und nun widmet sie ihre Forschungen einer Frau, die fünfundvierzig Jahre lang durchs Leben stolperte, einer aufsässigen und schwierigen Person, die nach eigenem Bekunden sich selbst eine Fremde war. Einer Frau, die sich zunächst in der Musik, dann in der Malerei versuchte und, nachdem sie es auf beiden Gebieten zu nichts gebracht hatte, Gedichte und Kurzgeschichten schrieb, von denen einige sogar veröffentlicht wurden (was sie zweifellos dem Namen ihres Vaters zu verdanken hatte), aber alle waren sie hölzern und ungelenk, bestenfalls Mittelmaß – mit Ausnahme einer einzigen Zeile aus einem Gedicht, das Miriam in ihrem Manuskript zitiert, einer Zeile, die mir außerordentlich gut gefällt: Und die wunderliche Welt dreht sich weiter.
Nimmt man zu ihrem beruflichen Werdegang die Details ihres privaten Lebens hinzu – als Zwanzigjährige durchgebrannt mit dem Schriftsteller George Lathrop (einem jungen Mann, der aus seinem Talent nie etwas gemacht hat), die bitteren Konflikte dieser Ehe, die Trennung, die Aussöhnung, den Tod ihres einzigen Kindes mit vier Jahren, die endgültige Trennung, Roses Streitigkeiten mit Bruder und Schwester –, fragt man sich zunächst: Wozu sich damit abgeben, wozu seine Zeit damit verbringen, das Innenleben einer so unglücklichen und unbedeutenden Person zu erforschen? Dann aber, in der Lebensmitte, machte Rose eine Wandlung durch. Sie wurde katholisch, legte ein Gelübde ab, gründete einen Nonnenorden, den sie Servants of Relief for Incurable Cancer nannte, und widmete ihre letzten dreißig Jahre der Pflege unheilbar Kranker – eine leidenschaftliche Kämpferin für das Recht jedes Menschen, in Würde zu sterben. Und die wunderliche Welt dreht sich weiter. Mit anderen Worten: Wie schon das eines Donne erzählt Rose Hawthornes Leben die Geschichte einer Konversion, und das war es offenbar, was Miriams Interesse geweckt und sie angezogen hatte. Die Gründe dafür stehen auf einem anderen Blatt, aber ich glaube, sie führen uns direkt zu ihrer Mutter: Es geht um die tiefsitzende Überzeugung, dass Menschen sich aus eigener Kraft verändern können. Das ist Sonias Einfluss zu verdanken, nicht meinem, und wahrscheinlich hat es Miriam zu einem besseren Menschen gemacht, aber so geistreich meine Tochter auch sein mag, sie hat doch etwas Naives und Schwaches an sich, und ich wünschte bei Gott, sie könnte endlich einsehen, dass es sich bei den Niederträchtigkeiten, die Menschen einander antun, nicht bloß um einzelne Verirrungen
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