Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Aber was, wenn sie dazu nicht bereit ist? Durch die Straßen laufen und ein anderes Hotel suchen – oder aber den Einbruch der Dunkelheit abwarten und sich aus Wellington davonstehlen.
    Er wartet zehn Minuten, bis er ganz sicher sein kann, dass Virginia die vier Stockwerke nach unten gegangen ist und das Exeter verlassen hat. Natürlich könnte sie in der Lobby sitzen oder den Hoteleingang von der anderen Straßenseite aus im Auge behalten, aber angenommen, sie ist nicht in der Lobby, dann wird er sich durch eine Hintertür davonschleichen, vorausgesetzt, es gibt eine Hintertür und er findet sie. Und was, wenn sie zufällig doch in der Lobby sitzen sollte? Dann würde er schleunigst die Flucht ergreifen, ganz einfach. Brick mag nicht direkt der schnellste Mann der Welt sein, doch während des Gesprächs ist ihm aufgefallen, dass Virginia Stiefel mit sehr hohen Absätzen trägt, und ein Mann in flachen Schuhen wird einer Frau in Stöckelschuhen wohl jederzeit davonlaufen können.
    Was die Umarmung und das zärtliche Lächeln, was ihren Wunsch betrifft, ihn wiederzusehen, und ihr Bedauern darüber, dass sie in der Highschool nicht miteinander gegangen waren, so ist Brick überaus skeptisch. Virginia Blaine, der Schwarm seines fünfzehnjährigen Ichs, war das hübscheste Mädchen in der Klasse, und jeder Junge geriet in Verzückung und heimliches Schmachten, wenn sie vorüberging. Er hatte nicht die Wahrheit gesagt, als er ihr erzählte, er habe damals kurz davor gestanden, sie zu fragen, ob sie mit ihm gehen wolle. Selbstverständlich hatte er sie fragen wollen, aber zu diesem Zeitpunkt seines Lebens hätte er das niemals gewagt.
    Den Reißverschluss der Lederjacke hochgezogen, den Rucksack über die rechte Schulter geworfen, macht Brick sich an den Abstieg; er nimmt den Notausgang, die Hintertreppe, die zum Glück weit abseits der Lobby zu einer Metalltür führt und weiter auf eine Straße, die parallel zum Haupteingang des Hotels verläuft. Von Virginia ist weit und breit nichts zu sehen, und die erfolgreiche Flucht macht unserem erschöpften Helden solchen Mut, dass er von jähem Optimismus erfüllt auf den Gedanken kommt, dem Wörterbuch seines Elends nun endlich das Wort Hoffnung hinzuzufügen. Raschen Schritts zieht er dahin, umkurvt Trauben von Fußgängern, weicht einem Jungen auf einem Hüpfstock aus, wird ein wenig langsamer, als sich ihm vier mit Gewehren bewaffnete Soldaten nähern, und lauscht dem ewigen Gerassel der Fahrräder neben sich auf der Straße. Eine Biegung, noch eine Biegung und noch eine, und schon steht er vor dem Pulaski Diner, dem Schnellimbiss, wo Molly arbeitet.
    Brick tritt ein, und wieder ist das Lokal leer. Nun, da er mit den Umständen vertraut ist, überrascht ihn das nicht mehr, denn wer geht schon in ein Restaurant, in dem es nichts zu essen gibt? Da sitzt kein einziger Gast, aber zu seiner Beunruhigung fehlt auch von Molly jede Spur. Brick fragt sich, ob sie etwa schon nach Hause gegangen sei, und ruft ihren Namen, und als niemand reagiert, ruft er noch einmal. Einige angstvolle Sekunden später taucht sie endlich auf; er ist erleichtert – aber kaum, dass sie ihn erkannt hat, nimmt ihre gelangweilte Miene einen besorgten, womöglich sogar wütenden Ausdruck an.
    Alles in Ordnung?, fragt sie. Ihre Stimme klingt angespannt und abwehrend.
    Ja und nein, sagt Brick.
    Was soll das heißen? Hat man Ihnen im Hotel Schwierigkeiten gemacht?
    Keineswegs. Man hat mich erwartet. Ich habe für eine Nacht im Voraus bezahlt und bin nach oben gegangen.
    Wie war das Zimmer? Gab’s da etwas zu beanstanden?
    Ich will Ihnen was erzählen, Molly, sagt Brick und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen, ich habe die ganze Welt bereist, und wenn es um erstklassige Hotelzimmer geht ich rede von der absoluten Spitzenklasse in Sachen Komfort und Eleganz –, ist Zimmer vierhundertsechs des Exeter Hotels zu Wellington praktisch nicht zu überbieten.
    Dieser kleine Scherz veranlasst Molly zu einem breiten Grinsen, und plötzlich wirkt sie wie verwandelt. Ja, ich weiß, sagt sie. Das ist schon ein vornehmer Laden, was?
    Als er sie so strahlen sieht, begreift Brick auch den Grund für ihre anfängliche Unruhe. Sie hatte befürchtet, er sei zurückgekommen, um sich zu beschweren, ihr vorzuhalten, sie habe ihn betrogen, und jetzt, eines Besseren belehrt, hat sie ihre Defensive gelockert und eine entspanntere Haltung eingenommen.
    Mit dem Hotel hat es nichts zu tun, sagt er. Sondern mit der Situation, die ich

Weitere Kostenlose Bücher