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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs … Proteste … Krawalle in den Großstädten … Forderung nach Abschaffung des Wahlmännergremiums … Kongress lehnt die Gesetzesvorlage ab … neue Bewegung … Wortführer sind der Bürgermeister und die Bezirksvorsitzenden von New York City … Sezession … zweitausenddrei vom Gesetzgeber bestätigt … Angriff föderalistischer Truppen.. Albany, Buffalo, Syracuse, Rochester … New York City bombardiert, achtzigtausend Tote … aber die Bewegung wächst … zweitausendvier schließen sich Maine, New Hampshire, Vermont, Massachusetts, Connecticut, New Jersey und Pennsylvania mit New York zu den Unabhängigen Staaten von Amerika zusammen … im selben Jahr spalten sich Kalifornien, Oregon und Washington ab und gründen die Republik Pacifica … zweitausendfünf treten Ohio, Michigan, Wisconsin und Minnesota den Unabhängigen Staaten bei … die Europäische Union erkennt das neue Staatengebilde an … diplomatische Beziehungen werden aufgenommen … dann Mexiko … dann die Länder Mittel- und Südamerikas …  schließlich Russland, dann Japan … Unterdessen gehen die Kampfhandlungen weiter … Kriegsgräuel … die Zahl der Toten steigt und steigt … UN-Resolutionen werden von den Föderalisten ignoriert, aber bis jetzt kein Einsatz von Nuklearwaffen, was die vollständige Auslöschung beider Seiten bedeuten könnte … Außenpolitik: keinerlei Einmischung, nirgendwo … Innenpolitik: allgemeine Krankenversicherung, kein Öl mehr, keine Autos oder Flugzeuge, Vervierfachung der Lehrergehälter (um die klügsten Studenten in diesen Beruf zu locken), strikte Waffengesetze, kostenlose Schul- und Berufsausbildung für die sozial Schwachen … das alles vorläufig im Reich der Phantasie, ein Traum für die Zukunft, denn noch tobt der Krieg, noch herrscht allgemeiner Ausnahmezustand.
    Der Jeep wird langsamer und rollt aus. Als Virginia den Zündschlüssel abzieht, schlägt Brick die Augen auf und bemerkt, dass er sich nicht mehr im Zentrum von Wellington befindet. Sie stehen in einer Vorstadtstraße mit großen Villen im Tudorstil, tadellos gepflegten Vorgärten, Tulpenbeeten, Forsythien und Rhododendren und zahllosen anderen äußeren Anzeichen begüterten Lebens. Jedoch, als er aus dem Jeep steigt und die Straße hinuntersieht, fällt ihm auf, dass einige der Villen nur noch Ruinen sind: eingeschlagene Fenster, verkohlte Mauern, klaffende Löcher in den Fassaden – leere Hülsen, in denen einst Menschen lebten. Die Gegend muss im Verlauf des Krieges bombardiert worden sein, vermutet Brick, stellt aber keine Fragen. Stattdessen zeigt er auf das Haus, in das sie gleich eintreten werden, und stellt trocken fest: Hübscher Kasten, Virginia. Dir scheint es ja recht gut ergangen zu sein.
    Mein Mann war Unternehmensanwalt, sagt sie schroff und wenig geneigt, über die Vergangenheit zu reden. Hat sehr viel Geld verdient.
    Virginia öffnet die Tür mit einem Schlüssel, und sie treten ins Haus.
    In der Wanne, bis zum Hals in warmem Wasser, zwanzig, dreißig Minuten lang, reglos, ruhig, allein. Danach schlüpft Brick in den weißen Frotteemantel von Virginias verstorbenem Gatten, geht ins Schlafzimmer, setzt sich auf einen Stuhl und lässt sich von ihr verarzten: Geduldig betupft sie seine Wange mit einer desinfizierenden Lösung und bedeckt die Wunde dann mit einem Pflaster. Allmählich fühlt Brick sich etwas besser. Wasser wirkt Wunder, sagt er sich, als er feststellt, dass die Schmerzen in seinem Bauch und weiter unten fast ganz verschwunden sind. Die Wange brennt noch, aber irgendwann wird auch das sich legen. Nur der abgebrochene Zahn wird warten müssen, bis er einen Zahnarzt aufsuchen und eine Krone anfertigen lassen kann, und dazu wird er in nächster Zeit wohl kaum kommen. Vorläufig sieht er (wie ihm ein Blick in den Badezimmerspiegel bestätigt hatte) absolut verboten aus. Nur ein paar Millimeter weißen Zahnschmelzes fehlen, und schon gleicht er einem abgerissenen Penner, einem schwachsinnigen Dorftrottel. Zum Glück ist die Lücke nur sichtbar, wenn er lächelt, und in Bricks gegenwärtigem Zustand ist Lächeln so ziemlich das Letzte, wonach ihm zumute ist. Wenn dieser Albtraum nicht aufhört, denkt er, werde ich wahrscheinlich bis an mein Lebensende keinen Grund mehr zum Lächeln finden.
    Zwanzig Minuten später sitzt Brick frisch umgezogen mit Virginia in der Küche – sie hat ihm Toast und Kaffee gemacht, das gleiche Minimalfrühstück, das ihn an diesem

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