Mann im Dunkel
Morgen fast das Leben gekostet hätte –, und er beantwortet bereits ihre zehnte Frage nach Flora. Virginias Neugier verwirrt ihn. Wenn sie es war, die ihn hierher gebracht hat, müsste sie doch alles über ihn und seine Ehe wissen. Aber Virginia ist unersättlich, und Brick fragt sich allmählich, ob die vielen Fragen womöglich nur dem Zweck dienen, ihn im Haus zu halten, ihn die Zeit vergessen zu lassen, damit er nicht wieder davonläuft, bevor Frisk sich sehen lässt. Fest steht, er würde am liebsten davonlaufen, aber nach dem warmen Bad und dem Frotteemantel und der Zärtlichkeit, mit der sie ihm das Pflaster ins Gesicht geklebt hat, erwachen in ihm freundschaftliche Gefühle für Virginia, ja, langsam spürt er das alte Feuer seiner Jugendliebe wieder aufflammen.
Ich habe sie in Manhattan kennengelernt, sagt er. Vor ungefähr dreieinhalb Jahren. Bei einem noblen Kindergeburtstag in der Upper East Side. Ich war als Zauberer engagiert, und sie war eine vom Partyservice.
Ist sie schön, Owen?
Für mich ist sie das. Nicht schön auf die Art, wie du schön bist, Virginia, mit deinem unglaublichen Gesicht und deinem großen schlanken Körper. Flora ist klein, nicht mal eins fünfundsechzig, ein richtiger Winzling, aber sie hat wunderbare braune Augen und herrlich dichtes schwarzes Haar und das beste Lachen, das ich je gehört habe.
Liebst du sie?
Natürlich.
Und sie liebt dich?
Ja. Meistens jedenfalls. Flora hat ein gewaltiges Temperament, manchmal spuckt sie Gift und Galle. Und wenn wir uns streiten, denke ich, sie hat mich nur geheiratet, weil sie die amerikanische Staatsbürgerschaft haben wollte. Aber das geschieht nicht sehr oft. An neun von zehn Tagen kommen wir gut miteinander aus. Richtig gut.
Was ist mit Kindern?
Sind geplant. Vor ein paar Monaten haben wir ernsthaft angefangen, es zu versuchen.
Gib nicht auf. Den Fehler habe ich gemacht. Ich habe zu lange gewartet, und jetzt sieh mich an. Kein Mann, keine Kinder, nichts.
Du bist doch noch jung, noch immer das schönste Mädchen weit und breit. Du findest bestimmt einen anderen, ganz bestimmt.
Bevor Virginia antworten kann, klingelt es an der Tür. Sie steht auf, flüstert Scheiße, als sei es ihr ernst damit, als ärgere sie sich tatsächlich über die Störung, aber Brick weiß, jetzt sitzt er in der Falle, jetzt ist ihm jeder Fluchtweg abgeschnitten. Ehe sie die Küche verlässt, dreht Virginia sich noch einmal um und sagt: Als du in der Wanne lagst, habe ich telefoniert. Ich habe ihm gesagt, er soll zwischen vier und fünf kommen, aber er hat wohl nicht warten können. Tut mir leid, Owen. Ich wollte diese Stunden für uns haben, wollte dir die Hose wegzaubern. Ganz ehrlich. Ich wollte dich nach Strich und Faden durchvögeln. Denk daran, wenn du wieder zurückgehst.
Zurück? Du meinst, ich kann wieder zurückgehen?
Lou wird dir alles erklären. Das ist sein Job. Ich bin bloß Personalreferentin, ein kleines Rädchen in einer großen Maschine.
Lou Frisk erweist sich als mürrisch dreinblickender Mann von Anfang fünfzig; er ist eher klein, hat schmale Schultern, eine Drahtbrille und die zerklüftete Haut eines ehemaligen Aknepatienten. Er trägt einen grünen Pullover mit V-Ausschnitt, ein weißes Hemd und eine karierte Krawatte, und in der linken Hand hält er eine schwarze Tasche, die an einen Arztkoffer erinnert. Als er in die Küche tritt, stellt er sie ab und sagt: Sie sind mir ausgewichen, Corporal.
Ich bin kein Corporal, antwortet Brick. Das wissen Sie. Ich bin in meinem ganzen Leben kein Soldat gewesen.
Nicht in Ihrer Welt, sagt Frisk, aber in dieser Welt sind Sie Corporal der Massachusetts Seventh, ein Angehöriger der bewaffneten Streitkräfte der Unabhängigen Staaten von Amerika.
Brick legt beide Hände an den Kopf und stöhnt leise, als ihm ein weiteres Bruchstück seines Traums einfällt: Worcester, Massachusetts. Er blickt auf, wartet, bis Frisk auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz genommen hat, und sagt: Ich bin also in Massachusetts. Habe ich das richtig verstanden?
Wellington, Massachusetts, bestätigt Frisk. Früher unter dem Namen Worcester bekannt.
Brick schlägt mit der Faust auf den Tisch, endlich entlädt sich all die Wut, die sich so lange in ihm aufgestaut hat. Das gefällt mir nicht!, schreit er. Da ist jemand in meinem Kopf. Nicht mal meine Träume gehören mir allein. Mein ganzes Leben ist mir gestohlen worden. Er hebt den Blick, starrt Frisk in die Augen und brüllt aus vollem Hals: Wer macht das mit
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