Mann im Dunkel
Sie das Manuskript heraus und zeigen mir einen Satz, in dem mein Name vorkommt.
Das ist das Problem. Brill hält nichts schriftlich fest. Er spinnt sich die Geschichte in seinem Kopf zusammen.
Woher wollen Sie das wissen?
Militärgeheimnis. Aber wir wissen es, Corporal. Vertrauen Sie mir.
Blödsinn.
Sie wollen doch wieder zurück, oder? Nun, das ist die einzige Möglichkeit. Wenn Sie den Auftrag nicht übernehmen, sitzen Sie für immer hier fest.
Also schön. Nehmen wir an, ich erschieße diesen Mann … diesen Brill. Was geschieht dann? Wenn er Ihre Welt erschaffen hat, werden Sie, sobald er stirbt, aufhören zu existieren.
Er hat diese Welt nicht erfunden. Er hat nur den Krieg erfunden. Und er hat Sie erfunden, Brick. Begreifen Sie das nicht? Das hier ist Ihre Geschichte, nicht unsere. Der alte Mann hat Sie erfunden, damit Sie ihn töten.
Es geht also praktisch um Selbstmord.
Könnte man sagen, ja.
Wieder legt Brick den Kopf in die Hände und stöhnt. Das alles ist zu viel für ihn, und nach all seinen Mühen, Frisks irrsinnige Behauptungen zu entkräften, kann er sich nicht mehr konzentrieren, in seinem Innern kreist ein chaotischer Strudel aus abgerissenen Gedanken und ungestalten Ängsten. Nur eins ist ihm klar: Er will wieder zurück. Er will zu Flora zurück und sein altes Leben wiederhaben. Und um das zu erreichen, muss er den Auftrag übernehmen, muss einen Mann töten, den er nicht kennt, einen Fremden, den er nie im Leben gesehen hat. Das wird er akzeptieren müssen, aber was kann ihn, wenn er erst einmal auf der anderen Seite ist, daran hindern, die Erfüllung seines Auftrags zu verweigern?
Den Blick noch immer auf den Tisch gesenkt, zwingt er die Worte aus seinem Mund: Erzählen Sie mir etwas über diesen Mann.
Ah, schon besser, sagt Frisk. Endlich nehmen wir Vernunft an.
Lassen Sie diese Sprüche, Frisk. Sagen Sie mir einfach, was ich wissen muss.
Unser Mann ist Literaturkritiker im Ruhestand, zweiundsiebzig Jahre alt, lebt in der Nähe von Brattleboro, Vermont, mit seiner siebenundvierzigjährigen Tochter und seiner dreiundzwanzigjährigen Enkelin. Die Tochter wurde vor fünf Jahren von ihrem Mann verlassen. Der Freund der Enkelin kam kürzlich ums Leben. Es ist ein Haus der Trauer, der verletzten Seelen, und Brill spinnt in seinen schlaflosen Nächten Geschichten von anderen Welten zusammen, um keinen Gedanken an seine eigene Vergangenheit aufkommen zu lassen.
Warum sitzt er im Rollstuhl?
Autounfall. Sein linkes Bein wurde zertrümmert. Es fehlte nicht viel, und man hätte es amputieren müssen.
Und wenn ich mich einverstanden erkläre, diesen Mann zu töten, schicken Sie mich zurück.
So lautet die Abmachung. Aber versuchen Sie nicht, sich da rauszuwinden, Brick. Wenn Sie Ihre Zusage nicht einhalten, werden wir Sie finden. Zwei Kugeln. Eine für Sie und eine für Flora. Peng, peng. Dann ist es aus. Mit Ihnen. Mit Flora.
Aber wenn Sie mich beseitigen, geht der Krieg weiter.
Nicht unbedingt. Zurzeit ist das nur eine Hypothese, aber einige von uns sind der Meinung, ob wir nun Sie oder Brill aus dem Weg räumen, könnte denselben Effekt haben. Die Geschichte wäre aus und der Krieg vorbei. Glauben Sie bloß nicht, wir seien nicht bereit, dieses Risiko einzugehen.
Wie komme ich zurück?
Im Schlaf.
Aber ich habe hier bereits geschlafen. Zweimal. Und beide Male bin ich am selben Ort aufgewacht.
Das war normaler Schlaf. Ich rede von medikamentös herbeigeführtem Schlaf. Sie bekommen eine Spritze. Die Wirkung gleicht einer Narkose, wie sie üblicherweise zur Vorbereitung einer Operation eingeleitet wird. Das schwarze Vakuum des Vergessens, ein Nichts so tief und dunkel wie der Tod.
Das sind ja herrliche Aussichten, sagt Brick. Er ist so verunsichert von dem, was ihn erwartet, dass er diesen lahmen Witz machen muss.
Sind Sie bereit, den Versuch zu wagen, Corporal?
Bleibt mir etwas anderes übrig?
In meiner Brust sammelt sich Husten, ein schwaches Rasseln von Schleim tief in meinen Bronchien, und ehe ich es unterdrücken kann, bricht es krachend aus mir heraus. Raus damit, raus aus der Kehle, ab nach Norden mit dem Zeug, die zähen Reste aus der Luftröhre geschleudert, aber ein Versuch reicht nicht, auch zwei nicht, auch nicht drei, und schon schüttelt mich ein ausgewachsener Hustenkrampf, mein ganzer Körper windet sich unter der Attacke. Ich trage selber Schuld daran. Vor fünfzehn Jahren habe ich mit dem Rauchen aufgehört, aber jetzt,
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