Mann im Dunkel
Nacht Sprüche drechseln, mitten in der Nacht Geschichten erfinden – es geht voran, meine kleinen Lieblinge, und so quälend dieses Durcheinander zuweilen sein mag, es liegt auch Poesie darin, solange man die passenden Worte findet, vorausgesetzt es gibt diese Worte überhaupt. Ja, Miriam, das Leben ist enttäuschend. Aber ich möchte auch, dass du glücklich bist.
Gräme dich nicht. Ich trete auf der Stelle, weil ich alle möglichen Entwicklungen dieser Geschichte voraussehen kann, aber noch habe ich nicht entschieden, welche Richtung ich einschlagen werde. Soll es Hoffnung geben oder keine? Beides ließe sich machen, und doch befriedigt mich weder das eine noch das andere. Gibt es einen Mittelweg nach solch einem Anfang, nachdem ich Brick den Wölfen zum Fraß hingeworfen und den armen Trottel völlig durcheinandergebracht habe? Wahrscheinlich nicht. Also dann, sieh schwarz, stürz dich rein und fechte die Sache bis zum Ende aus.
Die Spritze hat er schon bekommen. Brick sinkt ins bodenlose Dunkel der Bewusstlosigkeit, und als er Stunden später die Augen aufschlägt, findet er sich neben Flora im Bett liegend. Es ist früh am Morgen, halb acht oder acht, und während Brick den nackten Rücken seiner schlafenden Frau betrachtet, fragt er sich, ob er nicht von Anfang an recht gehabt habe, ob seine Zeit in Wellington nicht nur Teil eines schlimmen, grauenhaft lebendigen Traums gewesen sei. Als er jedoch seinen Kopf auf dem Kissen bewegt, spürt er Virginias Verband an seiner Wange, und als er mit der Zunge über die schartige Kante seines abgebrochenen Schneidezahns fährt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Tatsachen ins Auge zu blicken: Er war drüben, und alles, was er dort erlebt hat, ist wirklich passiert. Er kann sich nur an einen letzten dünnen Strohhalm klammern: Was, wenn die zwei Tage in Wellington in dieser Welt bloß ein Wimpernschlag gewesen wären? Was, wenn Flora gar nicht mitbekommen hätte, dass er fortgewesen ist? Damit wäre das Problem gelöst, er müsste ihr nicht erklären, wo er gewesen ist, denn eins steht fest: Die Wahrheit wäre schwer zu schlucken, insbesondere für eine so eifersüchtige Frau wie Flora, aber dennoch, selbst wenn die Wahrheit sich wie eine Lüge anhören sollte, er hat weder Kraft noch Lust, sich eine womöglich plausiblere Geschichte auszudenken, die ihren Argwohn zerstreuen und ihr begreiflich machen könnte, dass seine zweitägige Abwesenheit nichts mit einer anderen Frau zu tun hatte.
Dummerweise schlagen die Uhren in beiden Welten im selben Takt. Flora weiß also, dass er weggewesen ist, und als sie sich im Schlaf umdreht und dabei zufällig an seinen Körper stößt, ist sie auf der Stelle hellwach. Seine Sorgen verflüchtigen sich, sobald er die Freude in ihren braunen Augen aufleuchten sieht, und plötzlich schämt er sich, dass er an ihrer Liebe hatte zweifeln können.
Owen?, fragt sie, als wage sie es kaum zu glauben. Bist du das wirklich?
Ja, Flora, sagt er. Ich bin wieder da.
Sie schlingt ihre Arme um ihn und drückt ihn fest an ihre glatte nackte Haut. Ich bin fast durchgedreht, sagt sie, nachdrücklich das r rollend. Ich bin fast gestorben vor Angst. Als sie den Verband auf seiner Wange und die Blutergüsse um seine Lippen bemerkt, nimmt ihr Gesicht einen alarmierten Ausdruck an. Was ist passiert?, fragt sie. Wer hat dich so zugerichtet, Baby?
Er braucht über eine Stunde, um ihr einen vollständigen Bericht von seiner rätselhaften Reise in das andere Amerika zu liefern. Das Einzige, was er auslässt, ist Virginias letzte Bemerkung, sie habe ihm die Hose wegzaubern und ihn nach Strich und Faden durchvögeln wollen, ein nebensächliches Detail, er sieht keinen Sinn darin, Flora mit Kleinigkeiten aufzuregen, die für die eigentliche Geschichte nur wenig Bedeutung haben. Am heikelsten wird es gegen Ende, als er sein Gespräch mit Frisk wiederzugeben versucht. Er hatte es ja selbst kaum verstanden, und als er jetzt wieder in seiner Wohnung am Küchentisch sitzt und mit seiner Frau Kaffee trinkt, kommt ihm dieses ganzes Gerede von Mehrfachrealitäten und Mehrfachwelten, die von irgendwelchen Leuten erträumt und ausgesponnen werden, vollkommen unsinnig vor. Er schüttelt den Kopf, als wolle er sich für sein törichtes Gestammel entschuldigen. Aber die Spritze war echt, sagt er. Und der Befehl, August Brill zu töten, war es auch. Und wenn er den Auftrag nicht ausführe, lebten er und Flora in ständiger Gefahr.
Bis jetzt hat Flora schweigend
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