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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ausgebrochen sei. Statt den Weg zu meiner Wohnung einzuschlagen, fuhr Gil unverzüglich zum Lincoln Tunnel, und so wurde ich Zeuge eines der schlimmsten Rassenkrawalle in der Geschichte Amerikas. Es gab über zwanzig Tote, über siebenhundert Verletzte, über fünfzehnhundert Festnahmen und Sachschäden von mehr als zehn Millionen Dollar. Ich erinnere mich an diese Zahlen, weil Katya, als sie vor einigen Jahren auf der Highschool einen Aufsatz über Rassismus schreiben musste, mich darüber ausgefragt hat. Merkwürdig, dass ich diese Zahlen behalten habe, aber da mir jetzt so viele andere Dinge zu entgleiten beginnen, klammere ich mich an sie, um mir zu beweisen, dass ich noch nicht völlig am Ende bin.
    Die Fahrt nach Newark an jenem Abend glich einer Reise in einen der unteren Kreise der Hölle. Häuser in Flammen, Horden von Männern, die wild durch die Straßen rannten, das Klirren von Glas, als ein Schaufenster nach dem anderen zertrümmert wurde, das Jaulen der Sirenen, das Krachen von Schüssen. Gil fuhr zum Rathaus, und nachdem wir drei das Gebäude betreten hatten, gingen wir direkt zum Büro des Bürgermeisters. Hugh Addonizio saß hinter seinem Schreibtisch, ein untersetzter, birnenförmiger Mann Mitte fünfzig, ehemaliger Kriegsheld, sechsmal in den Kongress gewählt und jetzt in seiner zweiten Amtszeit als Bürgermeister – und dieser große kahlköpfige Mann hockte da vollkommen hilflos an seinem Schreibtisch und weinte, dass ihm die Tränen über die Wangen strömten. Was soll ich nur machen?, sagte er und sah zu Gil auf. Was zum Teufel soll ich nur machen?
    Ein unauslöschliches Bild, nach all diesen Jahren noch immer unverblasst: der Anblick dieser kläglichen Gestalt, erdrückt von der Last der Ereignisse, ein Mann, erstarrt vor Verzweiflung, während die Stadt um ihn herum in Stücke bricht. Unterdessen waltete Gil gelassen seines Amtes, telefonierte mit dem Polizeichef und tat sein Bestes, die Situation in den Griff zu bekommen. Einmal verließen er und ich den Raum und gingen die Treppe hinunter zum Gefängnistrakt im untersten Stockwerk des Gebäudes. Die Zellen waren überfüllt, die Gefangenen ausnahmslos Schwarze, und mindestens die Hälfte von ihnen stand da in zerrissenen Kleidern, mit blutenden Kopfwunden und geschwollenen Gesichtern. Es war nicht schwer zu erraten, wie sie zu diesen Verletzungen gekommen waren, aber Gil stellte die Frage trotzdem. Und einer nach dem andern gab dieselbe Antwort: Polizisten hatten sie zusammengeschlagen.
    Nicht lange nachdem wir ins Büro des Bürgermeisters zurückgekehrt waren, tauchte ein Angehöriger der Polizei von New Jersey auf, ein gewisser Colonel Brand oder Brandt, ein Mann um die vierzig mit messerscharfem Bürstenschnitt, kantigem Kiefer und dem harten Blick eines Marine auf dem Weg zum Einsatz. Er gab Addonizio die Hand, setzte sich auf einen Stuhl und sagte einen einzigen Satz: Wir werden jeden einzelnen schwarzen Scheißkerl in dieser Stadt zur Strecke bringen.
    Ich hätte wahrscheinlich nicht schockiert sein dürfen, aber ich war’s. Vielleicht nicht von der Bemerkung als solcher, gewiss aber von der eisigen Verachtung, mit der er sie aussprach. Gil forderte ihn auf, seine Ausdrucksweise zu mäßigen, doch der Colonel stöhnte bloß entnervt und tat die Rüge meines Schwagers mit einem Kopfschütteln ab, als habe er es mit einem ahnungslosen Idioten zu tun.
    Das war mein Krieg. Kein richtiger Krieg, mag sein, aber hat man einmal Gewalt dieses Ausmaßes erlebt, fällt es einem nicht schwer, sich noch Schlimmeres vorzustellen, und ist man erst einmal so weit gekommen, begreift man, die schlimmstmögliche Phantasie ist das Land, in dem man lebt. Man braucht es nur zu denken, und die Chancen stehen nicht schlecht, dass es Wirklichkeit wird.
    Als Gil im Herbst jenes Jahres in die unhaltbare Lage geriet, die Stadt Newark gegen die Klagen Hunderter von Geschäftsleuten zu vertreten, deren Läden bei den Krawallen zerstört worden waren, kündigte er seine Stellung und nahm nie wieder ein Amt bei der Regierung an. Fünfzehn Jahre später, zwei Monate vor seinem dreiundfünfzigsten Geburtstag, war er tot.
    Ich möchte an Betty denken, doch dazu muss ich an Gil denken, und um an Gil zu denken, muss ich ganz an den Anfang zurück. Was weiß ich schon von ihm? Nicht viel, letzten Endes, aber doch einige wichtige Fakten, zusammengelesen aus den Geschichten, die er und Betty mir erzählt haben. Er war das erste von drei Kindern eines Newarker Gastwirts,

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