Mann im Dunkel
dich vor, kleine Flora. Dann müssen wir uns auf großen Ärger gefasst machen.
Vergiss es, Owen. Verlass dich drauf. Dieser Brill existiert nicht, also kann sein Name auch nicht auf der Liste stehen.
Aber er steht dort. August Brill, Pulitzer-Preis für Kritik neunzehnhundertvierundachtzig. Sie suchen weiter und tragen binnen weniger Minuten jede Menge Informationen zusammen, unter anderem biographische Angaben aus Who’s Who in America (1935 in New York City geboren; 1957 Heirat mit Sonia Weil; 1975 geschieden; 1976 Heirat mit Oona McNally; 1981 geschieden; 1960 Geburt der Tochter Miriam; 1957 B. A. an der Columbia University; Ehrendoktortitel vom Williams College und Pratt Institute ; Mitglied der American Academy of Arts and Sciences; Verfasser von über 1500 Artikeln, Rezensionen und Kolumnen für Zeitschriften und Tageszeitungen; 1972 –1991 Literaturchef des Boston Globe), eine Webseite mit über vierhundert Texten von ihm aus den Jahren neunzehnhundertzweiundsechzig bis zweitausenddrei sowie etliche Fotos, die ihn als Dreißig-, Vierzig- und Fünfzigjährigen zeigen und keinen Zweifel daran lassen, dass es sich um denselben Mann handelt, den Brick auf jenem anderen Foto als Greis im Rollstuhl vor dem weißverschalten Haus in Vermont hat stehen sehen.
Brick und Flora sitzen nebeneinander an einem kleinen Schreibtisch im Schlafzimmer und starren beklommen den Bildschirm an; was sie dort sehen, lässt ihre Hoffnungen zu Staub zerfallen. Schließlich schaltet Flora den Laptop aus und sagt leise, mit bebender Stimme: Da habe ich mich wohl geirrt, was?
Brick steht auf und beginnt im Zimmer hin und her zu gehen. Glaubst du mir jetzt?, fragt er. Dieser Brill, dieser gottverdammte August Brill … bis gestern hatte ich noch nie von ihm gehört. Wie soll ich ihn erfunden haben? Ich bin nicht klug genug, um mir auch nur die Hälfte von dem auszudenken, was ich dir erzählt habe, Flora. Ich schaffe es gerade mal, vor kleinen Kindern ein paar Zaubertricks aufzuführen. Ich lese keine Bücher, ich habe keine Ahnung von irgendwelchen Buchkritikern, und Politik interessiert mich nicht. Frag mich nicht, wie das möglich ist, aber ich bin eben aus einem Land zurückgekommen, in dem ein Bürgerkrieg tobt. Und jetzt muss ich diesen Mann töten.
Er setzt sich auf die Bettkante, überwältigt von der Grausamkeit seiner Lage, von der schieren Ungerechtigkeit dessen, was ihm widerfahren ist. Flora beobachtet ihn voller Sorge, geht durchs Zimmer und setzt sich zu ihm. Sie schlingt ihre Arme um seine Brust, lehnt ihren Kopf an seine Schulter und sagt: Du wirst niemanden töten.
Ich muss, antwortet Brick und starrt den Fußboden an.
Ich weiß nicht, was ich denken oder nicht denken soll, Owen, aber eins sage ich dir, du wirst niemanden töten. Du wirst diesen Mann in Ruhe lassen.
Das kann ich nicht.
Was glaubst du, warum ich dich geheiratet habe? Weil du gutmütig bist, mein Lieber, ein freundlicher, aufrichtiger Mensch. Ich habe keinen Killer geheiratet. Ich habe dich geheiratet, mein komischer Owen Brick, und ich werde nicht tatenlos zusehen, wie du jemanden ermordest und den Rest deines Lebens im Gefängnis verbringst.
Ich sage ja nicht, dass ich es tun will. Mir bleibt bloß nichts anderes übrig.
Red nicht so. Du bist ein freier Mensch. Und wie kommst du überhaupt darauf, du könntest dazu fähig sein? Kannst du dir wirklich vorstellen, dass du zu diesem Mann gehst, ihm eine Pistole an den Kopf hältst und kaltblütig abdrückst? Niemals, Owen. Zu so etwas bist du einfach nicht fähig. Gott sei Dank.
Brick weiß, dass Flora recht hat. Er könnte niemals einen unschuldigen Fremden töten, nicht einmal, wenn sein Leben davon abhinge – und das scheint ja nun der Fall zu sein. Er atmet erschaudernd aus, streicht Flora mit einer Hand übers Haar und sagt: Was soll ich tun?
Nichts.
Was soll das heißen: Nichts?
Wir leben einfach weiter. Du machst deine Arbeit und ich meine. Wir essen und schlafen und bezahlen unsere Rechnungen. Wir machen den Abwasch und schieben den Staubsauger über den Boden. Wir zeugen ein Kind. Du setzt mich in die Wanne und wäschst mir die Haare. Ich massiere deinen Rücken. Du lernst neue Tricks. Wir besuchen unsere Eltern und hören zu, wenn deine Mutter von ihren Krankheiten erzählt. Wir machen weiter, Baby, wir leben unser kleines Leben. Das habe ich mit nichts gemeint.
Ein Monat vergeht. In der ersten Woche nach Bricks Rückkehr bleibt Floras Regelblutung aus, und ein
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