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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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der angeblich Babe Ruth zum Verwechseln ähnlich sah. Irgendwann drängte sich Dutch Schultz in die Geschäfte von Gils Vater und übernahm schließlich sein Lokal, wie oder warum, kann ich nicht sagen, und wenig später starb der Vater an einem Herzinfarkt. Gil war zu dieser Zeit elf Jahre alt, und da sein Vater nun einmal pleite gewesen war, erbte er lediglich dessen chronisch hohen Blutdruck und ein Herzleiden erstmals diagnostiziert mit achtzehn, wurde daraus, als er vierunddreißig war, eine ausgewachsene Koronarthrombose, der ein oder zwei Jahre später eine weitere folgte. Gil war ein großer kräftiger Mann, aber sein ganzes Leben stand im Zeichen der Todesstrafe, die in seinen Adern zirkulierte.
    Seine Mutter heiratete wieder, als er dreizehn war; sein Stiefvater hatte nichts dagegen, die zwei jüngeren Kinder großzuziehen, aber von Gil wollte er nichts wissen und warf ihn – mit dem Einverständnis der Mutter – aus dem Haus. Von wegen unvorstellbar: von der eigenen Mutter verstoßen zu werden und den Rest der Kindheit bei Verwandten in Florida verbringen zu müssen.
    Nach der Highschool ging er in den Norden zurück und besuchte das College der N. Y. U., und da er kein Geld hatte, sah er sich gezwungen, diverse Teilzeitjobs anzunehmen, um sich über Wasser zu halten. Einmal, als er in Erinnerungen an diese schlechten Zeiten schwelgte, kam er auf seine Besuche bei Ratner’s zu sprechen, der alten jüdischen Milchbar in der Lower East Side; wie er sich dort an einen Tisch setzte und dem Kellner erzählte, er warte auf seine Freundin, die jeden Augenblick kommen müsse. Eine der Hauptattraktionen des Lokals waren die berühmten Brötchen. Sobald man Platz nahm, eilte ein Kellner herbei und stellte einem einen Korb mit diesen Brötchen hin, zusammen mit einer ordentlichen Portion Butter. Gil verzehrte ein gebuttertes Teilchen nach dem anderen, schaute ab und zu auf die Uhr, als ärgere er sich über die Unpünktlichkeit seiner nicht existierenden Freundin, und wenn der erste Korb geleert war, kam automatisch der zweite, und dem zweiten folgte ein dritter. Und wenn die Freundin schlussendlich doch nicht aufgetaucht war, stand Gil auf und verließ mit enttäuschter Miene das Restaurant. Nach einer Weile kamen die Kellner ihm auf die Schliche, aber den persönlichen Rekord von siebenundzwanzig auf einen Sitz verzehrten Gratisbrötchen konnten sie ihm nicht mehr nehmen.
    Jurastudium, Gründung einer erfolgreichen Kanzlei und zunehmendes Engagement für die Demokratische Partei. Idealist, Linksliberaler, setzte sich neunzehnhundertsechzig bei der Nominierung des Präsidentschaftskandidaten für Stevenson ein und beging neunzehnhundertvierundsechzig den Parteitag in Atlantic City im Tross von Eleanor Roosevelt. Aus den Jahren dazwischen stammt eine Fotografie, die ich seit Bettys Tod besitze: Sie zeigt ihn und John F. Kennedy beim Handschlag, als dieser zweiundsechzig oder dreiundsechzig Newark besuchte und zu Gil sagte: Wir haben viel Gutes von Ihnen gehört. Aber das alles war mit der Katastrophe von Newark zunichte, und nachdem Gil der Politik den Rücken gekehrt hatte, packten er und Betty ihre Sachen und zogen nach Kalifornien. In den folgenden sechs, sieben Jahren sah ich die beiden nicht mehr oft, nahm aber an, dass alles in Ordnung sei. Gil baute seine Kanzlei auf, meine Schwester eröffnete ein Geschäft in Laguna Beach (Küchengeräte, Tischtücher, exklusive Gewürzmühlen und anderes Zubehör), und auch wenn Gil täglich mehr als zwanzig Tabletten schlucken musste, um am Leben zu bleiben, schien er mir, wann immer sie zu Familienbesuchen in den Osten kamen, in guter Verfassung zu sein. Dann aber ging es mit seiner Gesundheit bergab. Mitte der siebziger Jahre machte ihm eine Reihe von Herzattacken und anderen Beschwerden das Arbeiten praktisch unmöglich. Ich schickte ihnen was immer, wann immer ich konnte, Betty musste einen Vollzeitjob annehmen, und Gil verbrachte die meiste Zeit zu Hause und las. Meine große Schwester und ihr sterbender Mann, dreitausend Meilen von mir entfernt. In diesen letzten Jahren, so erzählte mir Betty, legte Gil ihr regelmäßig Liebesbriefe in die Schubladen ihrer Kommode, versteckte sie zwischen ihren BHs, Unterröcken und -hosen, und jeden Morgen beim Ankleiden fand sie ein solches Billetdoux, das sie zur phantastischsten Frau der Welt erklärte. Nicht übel. Wenn man ihre Situation bedenkt, ganz und gar nicht übel.
    Das Ende möchte ich am liebsten vergessen: die

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