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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Schwangerschaftstest bestätigt ihnen, dass sie, wenn alles gutgeht, im Januar ein Kind bekommen werden. Zur Feier des Testergebnisses besuchen sie ein Nobelrestaurant in Manhattan, was sie sich eigentlich nicht leisten können; noch bevor sie das Essen bestellen, trinken sie eine ganze Flasche französischen Champagner, und dann verschlingen sie ein gewaltiges Porterhouse-Steak für zwei Personen, das, wie Flora bemerkt, fast so gut schmeckt wie das Fleisch in Argentinien. Am nächsten Tag, bei seinem zweiten Zahnarztbesuch, setzt man Brick eine Krone auf den abgebrochenen Schneidezahn, und er nimmt seine Arbeit als der Große Zavello wieder auf. Er saust in seinem verbeulten gelben Mazda kreuz und quer durch die Stadt, legt seinen Umhang um und zaubert vor Grundschülern und Altenheimbewohnern, in Gemeindezentren und auf privaten Partys, zieht Tauben und Hasen aus seinem Zylinderhut, lässt Seidentücher verschwinden und Eier aus dem Nichts erscheinen und verwandelt schwarzweiße Zeitungen in bunte Sträuße aus Stiefmütterchen, Tulpen und Rosen. Flora, die vor zwei Jahren ihren Job beim Partyservice aufgegeben hat und jetzt als Sprechstundenhilfe bei einem Arzt in der Park Avenue arbeitet, bittet ihren Chef um zwanzig Dollar Lohnerhöhung und wird abschlägig beschieden. Zutiefst in ihrem Stolz verletzt, bekommt sie einen Wutanfall und stürmt aus der Praxis, doch als sie am Abend mit Brick darüber spricht, überredet er sie, am nächsten Morgen zurückzugehen und sich bei Dr. Sontag zu entschuldigen, was sie dann auch tut. Und da der Arzt eine so kompetente und fleißige Angestellte nicht verlieren will, gewährt er ihr eine Lohnerhöhung um zehn Dollar, genau den Betrag, den sie sich ursprünglich erhofft hatte. Freilich werden die Geldsorgen der beiden dadurch kaum kleiner, und angesichts der bevorstehenden Geburt ihres Kindes fragen sie sich, ob das, was sie zurzeit verdienen, überhaupt für einen Dritten reichen könne. An einem trostlosen Sonntagnachmittag gegen Ende des Monats sprechen sie sogar darüber, ob Brick nicht für seinen Vetter Ralph arbeiten sollte, dem eine hochkarätige Immobilienagentur in Park Slope gehört. Die Zauberei wäre dann nur noch ein Nebenjob, kaum mehr als ein Hobby, dem er an seinen freien Tagen nachgehen könnte. Vor einem so drastischen Schritt schreckt Brick dann doch zurück; er verspricht, sich um besser bezahlte Aufträge zu kümmern, die ihnen den nötigen Spielraum verschaffen würden. Seinen Besuch in dem anderen Amerika hat er darüber nicht vergessen. Wellington nagt noch immer an ihm, und es vergeht kein Tag, an dem er nicht an Tobak, Molly Wald, Duke Rothstein, Frisk und, besonders verstörend, an Virginia Blaine denken muss. Er kann einfach nicht anders. Flora überschüttet ihn seit seiner Rückkehr mit Zärtlichkeiten, sie ist zu jener liebevollen Gefährtin geworden, nach der er sich immer gesehnt hatte, und obwohl er sie zweifellos ebenfalls liebt, ist Virginia doch immer da, lauert in seinen Gedanken, verbindet ihm mit zarten Händen das Gesicht und sagt ihm, wie sehr sie sich wünsche, ihm die Hose wegzuzaubern. Zum Ausgleich, wenn man das so sagen kann, beginnt er Brills alte Rezensionen im Internet zu lesen natürlich nur heimlich, denn Flora soll auf keinen Fall merken, dass er noch immer an den Mann denkt, den zu töten man ihm aufgetragen hat –, und wenn er in einem Artikel auf ein Buch stößt, das sich interessant anhört, geht er zur Bücherei und leiht es sich aus. Früher verbrachte er seine Abende mit Flora im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Jetzt liegt er auf dem Bett und liest. Seine bisher wichtigsten Entdeckungen heißen Tschechow, Calvino und Camus.
    Und so treiben Brick und Flora in ihrem ehelichen Nichts dahin, dem kleinen Leben, in das sie ihn mit dem gesunden Menschenverstand einer Frau zurückgelockt hat, die nicht an andere Welten glaubt, die weiß, dass es nur diese eine Welt gibt und das alltägliche Einerlei, gelegentliche Streitigkeiten und Geldsorgen ein wesentlicher Teil davon sind, dass ein Leben in dieser Welt trotz aller Schmerzen und Langeweile und Enttäuschungen der einzige Zipfel vom Paradies ist, den wir jemals erhaschen werden. Nach den entsetzlichen Stunden, die er in Wellington verbracht hat, will auch Brick nur noch dies, das Chaos von New York, den nackten Körper seiner kleinen Floratina, seine Arbeit als der Große Zavello und das ungeborene, Tag um Tag unsichtbar heranwachsende Kind, und dennoch weiß er tief in

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