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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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welchem Jahr ist Duclos gestorben?, fragte ich. Daran wirst du dich doch erinnern.
    Neunzehnhundertneunundachtzig. Im Frühjahr neunundachtzig. Da bin ich mir sicher, denn in diesem Jahr bin ich zum Orchester gekommen, und die Sache mit Françoise passierte nur wenige Wochen danach.
    Frühjahr neunundachtzig, sagte ich. Im November fiel die Mauer in Berlin. Im Ostblock wurden die Regierungen gestürzt, und dann brach die Sowjetunion auseinander. Demnach war Duclos eins der letzten Opfer des Kalten Krieges, stimmt’s?
       Ich räuspere mich, und eine Sekunde später huste ich wieder, würge zähen Speichel hoch und halte mir die Hand vor den Mund, um das Getöse zu dämpfen. Ich will in mein Taschentuch spucken, aber als ich die Hand ausstrecke und danach taste, streife ich den Wecker, der prompt vom Nachttisch kippt und polternd auf dem Boden landet. Immer noch kein Taschentuch. Dann fällt mir ein, alle meine Taschentücher sind in der Wäsche, und so schlucke ich den Schleim vorsichtig hinunter und sage mir zum fünfzigsten Mal seit fünfzig Tagen, dass ich mit dem Rauchen aufhören muss, was mir, ich weiß es, nie gelingen wird, aber ich tue es trotzdem, nur um mich mit meiner eigenen Heuchelei zu quälen.
    Wenn ich an Duclos denke, frage ich mich, ob sich aus dieser schrecklichen Sache nicht eine Geschichte herauskitzeln ließe; es müsste darin nicht unbedingt um Duclos und Françoise gehen, nicht um die fünfzehn im Verborgenen verbrachten Jahre, nicht um das, was ich bereits weiß, vielmehr schwebt mir vor, von dort aus etwas Eigenes weiterzuspinnen. Die Tochter, zum Beispiel, aus dem Jahr neunzehnhundertneunundachtzig ins Jahr zweitausendsieben versetzt. Was, wenn sie Journalistin oder Schriftstellerin oder Ähnliches geworden ist und nach dem Tod der Mutter beschließt, ein Buch über ihre Eltern zu schreiben? Aber der Mann, der ihren Vater an die Russen verraten hat, lebt noch, und als er von ihrem Vorhaben Wind bekommt, versucht er sie aufzuhalten – oder gar umzubringen …
    Weiter komme ich nicht. Denn jetzt höre ich wieder Schritte im Obergeschoss, aber diesmal nicht zum Bad, sondern die Treppe herunter, und während ich mir noch vorstelle, wie Miriam oder Katya in die Küche geht, um einen Schluck zu trinken, eine Zigarette zu rauchen oder sich aus dem Kühlschrank etwas zu essen zu holen, merke ich, dass die Schritte in meine Richtung kommen, dass jemand sich meinem Zimmer nähert. Dann klopft es an der Tür – nein, es klopft nicht, es sind Fingernägel, die leise an der Tür kratzen –, und Katya flüstert: Bist du wach?
    Ich sage ihr, sie könne eintreten, und als die Tür aufgeht, zeichnet sich ihre Silhouette vor dem matten bläulichen Licht im Hintergrund ab. Wie es aussieht, trägt sie ihr Red-Sox-T-Shirt und eine graue Trainingshose, ihre langen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
    Alles in Ordnung bei dir?, fragt sie. Ich habe etwas auf den Boden fallen hören, und gleich danach hattest du einen schlimmen Hustenanfall.
    Mir geht’s prima, antworte ich. Was immer das heißen mag.
    Hast du überhaupt geschlafen?
    Kein bisschen. Und du?
    Phasenweise, aber nicht viel.
    Machst du bitte die Tür zu? Ich mag es lieber, wenn es vollkommen dunkel ist. Ich geb dir eins von meinen Kissen, dann kannst du dich neben mich legen.
    Die Tür fällt ins Schloss, ich schiebe ein Kopfkissen auf die Seite, wo Sonia früher geschlafen hat, und wenige Augenblicke später liegt Katya neben mir auf dem Rücken.
    Das erinnert mich an die Zeit, als du noch klein warst, sage ich. Immer wenn deine Großmutter und ich zu Besuch gekommen sind, bist du zu uns ins Bett gekrabbelt.
    Sie fehlt mir sehr. Ich kriege das immer noch nicht in meinen Kopf, dass sie nicht mehr da ist.
    Das geht nicht nur dir so.
    Warum schreibst du nicht mehr an deinem Buch, Grandpa?
    Weil es mir mehr Spaß macht, mit dir zusammen Filme anzusehen.
    Das tun wir erst seit kurzem. Aber du hast schon vor langer Zeit mit dem Schreiben aufgehört.
    Es wurde mir einfach zu traurig. Der Anfang hat mir Freude gemacht, aber als es dann an die schlechten Zeiten ging, kam ich nicht mehr gut damit zurecht. Ich habe in meinem Leben große Dummheiten begangen, und mir fehlte wohl einfach der Mut, das alles noch einmal zu durchleben. Dann wurde Sonia krank. Und als sie gestorben war, hat mich der Gedanke an die Arbeit nur noch mit Widerwillen erfüllt.
    Sei nicht so streng mit dir.
    Das bin ich nicht. Ich bin nur ehrlich.
    Das Buch sollte für

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