Mann im Dunkel
sie an der Juilliard studierte, hätte ich sie wahrscheinlich aufspüren können, aber ich wusste gar nichts. Sie war nichts als eine schöne Erscheinung, die mir ein paar Sekunden lang in die Augen geschaut hatte und dann verschwunden war. Ich war überzeugt davon, sie niemals wiederzusehen. Die Götter hatten mir einen Streich gespielt, mir das Mädchen, das zu lieben ich bestimmt war, die einzige Frau auf der Welt, die meinem Leben einen Sinn verleihen könnte, entrissen und in eine andere Dimension geworfen – an einen unzugänglichen Ort, zu dem mir der Zutritt verwehrt war. Ich erinnere mich an ein albernes Gedicht, das ich in dieser Zeit geschrieben habe, es handelte von Parallelwelten, verpassten Chancen und der tragischen Beschissenheit des Schicksals. Zwanzig Jahre alt, und schon fühlte ich mich verdammt.
Aber das Schicksal war auf deiner Seite.
Schicksal, Glück, wie immer du es nennen willst.
Wo ist es passiert?
In der U-Bahn. Seventh Avenue IRT. Am Abend des siebenundzwanzigsten April neunzehnhundertfünfundfünfzig. Der Waggon war ziemlich voll, nur der Sitz neben mir war noch frei. Wir hielten an der sechsundsechzigsten Straße, die Türen gingen auf, und sie stieg ein. Und da alle anderen Plätze besetzt waren, setzte sie sich neben mich.
Hat sie dich erkannt?
Nicht unmittelbar. Aber als ich erwähnte, wir seien uns vor ein paar Wochen auf dem Broadway begegnet, fiel es ihr wieder ein. Wir hatten nicht viel Zeit. Ich war auf dem Weg ins Village, um mich mit Freunden zu treffen, aber Sonia musste schon an der zweiundvierzigsten Straße aussteigen, das heißt, uns blieben nur drei Stationen. Immerhin konnten wir uns miteinander bekannt machen, Adressen und Telefonnummern austauschen. Ich erfuhr, dass sie an der Juilliard studierte. Ich erfuhr, dass sie Französin war, aber die ersten zwölf Lebensjahre in Amerika verbracht hatte. Ihr Englisch war perfekt, ohne jeden Akzent. Als ich ihr mit einer Kostprobe meines mittelmäßigen Französisch kam, stellte sich heraus, dass auch ihr Französisch makellos war. Unser Gespräch dauerte vielleicht sieben, höchstens zehn Minuten. Dann stieg sie aus, und ich wusste, es war etwas ganz Gewaltiges passiert. Für mich jedenfalls. Was sie dachte oder empfand, konnte ich nicht wissen, aber für mich stand nach diesen sieben oder zehn Minuten fest, dass ich die Frau meines Lebens getroffen hatte.
Erste Verabredung. Erster Kuss. Erstes … du weißt schon.
Am folgenden Nachmittag rief ich sie an. Mit zitternden Händen … Ich muss den Hörer drei- oder viermal abgenommen und wieder aufgelegt haben, bevor ich den Mut aufbrachte, ihre Nummer zu wählen. Ein italienisches Restaurant im West Village, den Namen weiß ich nicht mehr. Ein preiswertes Lokal, ich hatte nicht viel Geld, und es war das erste Mal – kaum zu glauben, aber wahr –, das erste Mal, dass ich ein Mädchen zum Essen einlud. Ich habe keine Ahnung, was für einen Eindruck ich gemacht habe, mir fehlt jedes Bild von mir selbst. Aber sie kann ich vor mir sehen, sie sitzt mir gegenüber, ich betrachte ihre weiße Bluse, ihre ruhigen grünen Augen, die mich aufmerksam und amüsiert anblicken, und ihren phantastischen Mund, diese vollen Lippen, die mich anlächeln, mich immer wieder anlächeln, und ich höre diese sanfte, volltönende Stimme aus den Tiefen ihres Zwerchfells aufsteigen, eine Stimme, die ich ungemein sexy fand, auch später noch, und dann ihr Lachen, das viel heller, manchmal fast piepsig klang, ein Lachen, das eher aus ihrer Kehle oder gar direkt aus ihrem Kopf zu kommen schien, und wann immer etwas sie wirklich belustigte – ich rede jetzt von späteren Zeiten, nicht von diesem ersten Abend –, konnte sie sich kaum noch halten, kicherte und lachte so heftig, bis ihr die Tränen aus den Augen rannen.
Ich erinnere mich. Nie habe ich jemanden so lachen sehen wie sie. Als ich klein war, hat mir das manchmal Angst gemacht. Grandmas Lachkrämpfe dauerten so lange, dass ich dachte, sie werde niemals mehr aufhören, werde sich buchstäblich totlachen. Aber nach und nach begann ich auch das an ihr zu lieben.
Da saßen wir also, zwei Zwanzigjährige in diesem Restaurant in der Bank Street oder Perry Street oder wo auch immer, und hatten unser erstes Rendezvous. Wir sprachen über alles Mögliche, das meiste davon habe ich vergessen, aber ich erinnere mich, wie fasziniert ich war, als sie mir von ihrer Familie, von ihrer Herkunft erzählte. Wie langweilig sich meine eigene Geschichte
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