Mann im Dunkel
kommen; er hat vorgeschlagen, wir könnten zusammen im Hotel wohnen und gut essen gehen. Wahrscheinlich mache ich das, aber noch habe ich nichts entschieden. Seine Frau ist übrigens schwanger. Die hübsche Suzie Woozy bekommt ein Kind.
Weiß deine Mutter Bescheid?
Ich hab’s ihr nicht erzählt. Ich dachte, es würde sie zu sehr aufregen.
Irgendwann erfährt sie es sowieso.
Das schon. Aber gerade jetzt scheint es ihr etwas besser zu gehen, und ich will sie einfach nicht beunruhigen.
Du bist ein harter Knochen, Kleines.
Von wegen. Ich bin ein schlappes Würstchen. Weich und schlaff.
Ich nehme Katyas Hand, und dann liegen wir anderthalb Minuten oder länger einfach nur schweigend nebeneinander im Dunkel. Während ich mich noch frage, ob sie womöglich einschliefe, wenn ich das Gespräch nicht wiederaufnähme, bricht sie das Schweigen:
Wann hast du sie zum ersten Mal gesehen?
Am vierten April neunzehnhundertfünfundfünfzig, nachmittags um halb drei.
Wirklich?
Wirklich.
Und wo war das?
Auf dem Broadway. Ecke Broadway und hundertfünfzehnte Straße, ich ging in Richtung Norden zur Butler Library. Sonia war auf dem Weg zur Juilliard School, die damals noch in der Nähe der Columbia lag, und ging südwärts. Ich muss sie schon auf einen halben Block Entfernung bemerkt haben, wahrscheinlich weil sie einen roten Mantel trug – Rot fällt einem ja besonders ins Auge, besonders in der Stadt, wo man nur von fadem Braun und Grau umgeben ist. Jedenfalls sehe ich einen roten Mantel auf mich zukommen, und dann erkenne ich die Person in diesem Mantel, ein Mädchen mit dunklen Haaren. Recht vielversprechend, aber noch zu weit entfernt, um Genaueres sagen zu können. Wie das bei Jungs nun mal so ist, du kennst das ja. Immer den Mädchen nachschauen, sie immerzu taxieren, immer auf die umwerfende Schönheit hoffen, die einem den Atem verschlägt und das Herz aussetzen lässt. Ich sah also den roten Mantel, und dann seine Trägerin – ein Mädchen mit kurzen dunklen Haaren, Körpergröße etwa eins fünfundsechzig –, und als Nächstes fällt mir auf, dass sie den Kopf leicht hin und her bewegt, als summe sie leise vor sich hin, und dass ihr Gang etwas Beschwingtes hat, überhaupt die Anmut ihrer Bewegungen, und ich sage mir: Dieses Mädchen ist glücklich, glücklich, am Leben zu sein und in der frischen Vorfrühlingsluft bei Sonnenschein durch die Straßen zu gehen. Ein paar Sekunden später treten einige ihrer Züge deutlicher hervor, ich sehe jetzt, dass sie knallroten Lippenstift trägt, und während die Entfernung zwischen uns immer kleiner wird, nehme ich zwei wichtige Einzelheiten gleichzeitig wahr. Erstens: Sie summt tatsächlich vor sich hin – eine Mozart-Arie, denke ich, weiß es aber nicht genau –, das heißt, sie summt nicht nur, sie singt, und zwar mit einer gutausgebildeten Stimme. Zweitens: Sie ist außerordentlich attraktiv, vielleicht sogar schön, und mir bleibt gleich das Herz stehen. Inzwischen ist sie bis auf zwei Meter an mich herangekommen, und ich, der ich noch niemals ein fremdes Mädchen auf der Straße angehalten, nie im Leben die Kühnheit besessen hatte, in aller Öffentlichkeit eine gutaussehende Fremde anzusprechen, mache den Mund auf und sage hallo, und da ich dabei lächle, zweifellos in einer Weise lächle, die weder bedrohlich noch aggressiv wirken kann, hört sie zu singen auf und erwidert, nun ebenfalls lächelnd, meinen Gruß. Und das war’s auch schon. Ich bin zu nervös, um noch etwas hinzuzufügen, und gehe einfach weiter, und auch das hübsche Mädchen in dem roten Mantel geht einfach weiter; dann aber, nach sechs oder sieben Schritten, bereue ich meine Schüchternheit und drehe mich um in der Hoffnung, mir bleibe noch Zeit, ein Gespräch anzufangen, aber das Mädchen geht zu schnell und ist schon außer Reichweite, ich sehe nur noch ihren Rücken, sehe sie die Straße überqueren und in der Menge verschwinden.
Frustrierend – aber verständlich. Ich kann es auch nicht leiden, wenn Männer mich auf der Straße anzumachen versuchen. Wärst du dreister gewesen, hätte Sonia dich vermutlich abblitzen lassen, und dann wäre nie etwas aus euch beiden geworden.
Das ist eine großmütige Auslegung. Als sie verschwunden war, kam es mir vor, als hätte ich die Chance meines Lebens verpasst.
Wie lange hat es gedauert, bis du sie wiedergesehen hast?
Fast einen Monat. Die Tage schleppten sich dahin, und ich konnte nicht aufhören, an sie zu denken. Wenn ich gewusst hätte, dass
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