Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
beschlossen, sie öffentlich hinzurichten; sämtliche Insassen des Lagers sollten der Exekution beiwohnen. Jean-Luc rechnete damit, nun zu erfahren, man habe sie erhängt oder an die Wand gestellt und erschossen, aber wie sich erwies, hatte der Kommandant etwas Traditionelleres im Sinn, er wählte eine seit Jahrhunderten überkommene Methode. Jean-Luc konnte uns nicht in die Augen sehen, als er weitersprach. Er wandte den Kopf ab und schaute aus dem Fenster, als finde die Exekution gerade draußen auf der Straße statt, und sagte mit plötzlich vor Bewegung zitternder Stimme: Sie wurde gevierteilt. Man legte ihr lange Ketten um Handgelenke und Fußknöchel, führte sie auf den Hof und ließ sie strammstehen, während die Ketten an vier Jeeps befestigt wurden, die in allen Himmelsrichtungen aufgestellt worden waren; dann gab der Kommandant Befehl, die Motoren anzulassen und langsam loszufahren. Die Frau gab nicht einen einzigen Schrei von sich, fuhr der Mann am Nebentisch fort, sie blieb vollkommen stumm, als ihr ein Glied nach dem anderen aus dem Leib gerissen wurde. Ist so etwas möglich? Er sei versucht gewesen, den Mann anzusprechen, sagte Jean-Luc, habe dann aber gespürt, dass er kein Wort herausbekommen würde. Mit den Tränen kämpfend, sei er aufgestanden, habe Geld auf den Tisch geworfen und das Restaurant verlassen.
        Sonja und ich kehrten nach Paris zurück, und dort hörte ich binnen achtundvierzig Stunden zwei weitere Geschichten, die mich sehr mitnahmen – nicht ganz so sehr wie Jean-Lucs entsetzliche Geschichte, aber schlimm genug, dass sie einen dauerhaften Eindruck hinterließen. Die erste kam von Alec Foyle, einem britischen Journalisten, der eigens aus London herübergeflogen war, um mit uns zu Abend zu essen. Alec ist Ende vierzig und ein ehemaliger Freund von Miriam, und Sonia und ich waren beide ein wenig überrascht gewesen, dass unsere Tochter schließlich Richard den Vorzug gegeben hatte. Nun, wir hatten Alec seit einigen Jahren nicht mehr gesehen und daher eine Menge nachzuholen, was zu einem jener hektischen Gespräche führte, die unvermittelt von einem Gegenstand zum nächsten springen. Einmal kamen wir auf Familien zu sprechen, und Alec erzählte uns von einer Unterhaltung mit einer Feuilletonistin bei The Independent oder The Guardian, ich weiß es nicht mehr genau. Er habe zu ihr gesagt: Irgendwann widerfährt jeder Familie etwas Außerordentliches – furchtbare Verbrechen, Überschwemmungen und Erdbeben, bizarre Unfälle, an Wunder grenzende Glücksfälle, und es gibt keine Familie auf der Welt ohne Geheimnisse oder Leichen im Keller, ohne Truhen voll von so unerhörten Dingen, dass einem die Spucke wegbliebe, wenn sie ans Tageslicht kämen. Seine Bekannte war nicht ganz seiner Meinung. Das gilt sicher für viele Familien, antwortete sie, vielleicht für die meisten, aber nicht für alle. Ihre eigene Familie, zum Beispiel. Sie könne sich nicht erinnern, dass irgendeinem ihrer Angehörigen jemals etwas Bemerkenswertes zugestoßen sei, kein einziges ungewöhnliches Ereignis. Unmöglich, sagte Alec. Konzentriere dich nur mal für einen Augenblick, dann fällt dir garantiert etwas ein. Sie dachte eine Weile nach, und schließlich sagte sie: Na gut, eins vielleicht. Meine Großmutter hat mir kurz vor ihrem Tod davon erzählt, und ich denke, es ist schon ziemlich ungewöhnlich.
    Alec lächelte uns über den Tisch hinweg an. Ungewöhnlich, sagte er. Meine Freundin wäre gar nicht auf der Welt, wenn diese Sache nicht passiert wäre, und sie nennt sie ungewöhnlich. Ich finde sie absolut ungeheuerlich.
    Die Großmutter seiner Freundin war Anfang der zwanziger Jahre in Berlin geboren worden, und als die Nazis neunzehnhundertdreiunddreißig an die Macht kamen, reagierte ihre jüdische Familie wie so viele andere. Sie hielten Hitler für einen Emporkömmling, der bald wieder verschwinden würde, und dachten gar nicht daran, Deutschland zu verlassen. Selbst als die Verhältnisse immer bedrückender wurden, hofften sie weiter auf das Beste und weigerten sich, den entscheidenden Schritt zu tun. Eines Tages, die Großmutter mochte siebzehn oder achtzehn gewesen sein, erhielten ihre Eltern einen Brief, unterzeichnet von einem Hauptmann der SS. Alec erwähnte nicht, in welchem Jahr sich das zutrug, aber ich tippe auf neunzehnhundertachtunddreißig, vielleicht ein wenig früher. Alecs Freundin zitierte den Wortlaut des Briefes wie folgt: Sie kennen mich nicht, aber mir sind Sie und Ihre Kinder

Weitere Kostenlose Bücher