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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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er verschwunden? Niemand wusste es.
    Fünfzehn Jahre vergingen. Der Mann wurde rechtmäßig für tot erklärt, aber Françoise hat nie mehr geheiratet oder mit einem anderen zusammengelebt. Sie zog ihre Tochter alleine groß (mit Unterstützung ihrer Eltern), bekam eine Anstellung an der Oper, gab Privatunterricht in ihrer Wohnung, und das war’s: eine beschnittene Existenz mit einer Handvoll Freunden, Sommerferien auf dem Land bei der Familie ihres Bruders, ein ungelöstes Rätsel als ihr ständiger Begleiter. Und dann, nach all den Jahren des Schweigens, klingelte eines Tages das Telefon, und jemand bestellte sie ins Leichenschauhaus, um einen Toten zu identifizieren.
    Der Mann, der sie in den Raum führte, wo die Leiche aufgebahrt worden war, wies warnend darauf hin, dass ihr ein unerquicklicher Anblick bevorstehe: Der Verstorbene sei aus einem Fenster im sechsten Stock eines Gebäudes gestoßen worden und auf dem Bürgersteig aufgeschlagen.
    So zerschmettert der Leichnam auch war, Françoise erkannte ihn sofort. Er hatte zehn Kilo zugenommen, sein Haar war lichter und grau geworden, und doch gab es keinen Zweifel, sie stand vor der Leiche ihres vermissten Gatten.
    Bevor sie den Raum verlassen konnte, kam ein zweiter Mann herein, nahm Françoise am Ellenbogen und sagte: Kommen Sie bitte, Madame Duclos. Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen.
    Er führte sie nach draußen zu seinem Wagen, der vor einer Bäckerei in einer Nebenstraße parkte, und bat sie einzusteigen. Statt den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken, kurbelte er das Fenster auf und zündete sich eine Zigarette an. Und im Lauf der nächsten Stunde erzählte er Françoise die Geschichte der vergangenen fünfzehn Jahre, während sie neben ihm in seinem kleinen blauen Auto saß und immer wieder Leute mit Broten unterm Arm aus der Bäckerei kommen sah. Dieses Detail hatte Bertrand im Gedächtnis behalten – die Brote –, doch über den Mann konnte er uns gar nichts sagen. Sein Name, sein Alter, sein Aussehen – alles weg. Aber letztlich ist das auch nicht wichtig.
    Duclos sei Agent bei der DGSE gewesen, berichtete er. Selbstverständlich könne sie das nicht gewusst haben, da Agenten strengste Anweisung hätten, nicht von ihrer Arbeit zu sprechen. All die Jahre, in denen sie glaubte, ihr Mann verfasse volkswirtschaftliche Analysen für das Außenministerium, habe er in Wirklichkeit für die Direction Générale des Services Extérieurs als Spion gearbeitet. Kurz nach der Geburt ihrer Tochter vor siebzehn Jahren erhielt er einen Auftrag, der ihn zum Doppelagenten machte: Zum Schein für die Sowjets tätig, lieferte er Informationen an die Franzosen. Nach zwei Jahren kamen die Russen ihm auf die Schliche und versuchten ihn umzubringen. Duclos konnte dem Attentat entkommen, jedoch keinesfalls nach Hause zurückkehren. Die Russen observierten Françoise und ihre Tochter, das Telefon in ihrer Wohnung war angezapft, und wenn Duclos versucht hätte, dort anzurufen oder sie zu besuchen, wären sie alle drei auf der Stelle ermordet worden.
    Um seine Familie zu schützen, hielt er sich fern. Die Franzosen halfen ihm fünfzehn Jahre lang, sich zu verstecken, und besorgten ihm immer wieder neue Wohnungen in Paris. Er war ein Gejagter, ein Gehetzter, der sich nur selten ins Freie wagte, um einen Blick auf seine Tochter zu erhaschen und sie auf diese Weise sprunghaft heranwachsen zu sehen, ohne je mit ihr reden, sie nie kennenlernen zu können. Und auch seine Frau beobachtete er, sah ihr jugendliches Aussehen langsam schwinden, sah sie zur reifen Frau werden, und irgendwann, sei es, weil er nachlässig geworden war, sei es, weil jemand ihn denunziert hatte, oder auch nur aus irgendeinem dummen Zufall heraus, kamen die Russen ihm auf die Spur. Sie entführten ihn … banden ihm die Augen zu … fesselten seine Hände … schlugen ihn ins Gesicht, schlugen überallhin … und stießen ihn am Ende aus dem sechsten Stock auf die Straße. Tod durch Fenstersturz. Eine der vielen klassischen Methoden, seit Hunderten von Jahren eine beliebte Hinrichtungsart unter Spionen und Polizisten.
    Bertrands Bericht war lückenhaft, er konnte nicht eine der Fragen beantworten, die Sonia und ich ihm stellten. Womit hatte Duclos sich in all diesen Jahren beschäftigt? Hatte er unter falschem Namen gelebt? Hatte er in irgendeiner Eigenschaft weiter für die DGSE gearbeitet? Wie oft hatte er sein Versteck verlassen können? Bertrand schüttelte den Kopf. Er wusste es schlichtweg nicht.
    In

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