Mann im Dunkel
durchaus bekannt. Ich könnte wegen dieses Briefes vors Militärgericht gestellt werden, dennoch halte ich es für meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, dass Sie sich in großer Gefahr befinden. Wenn Sie nicht bald handeln, wird man Sie abholen und in ein Lager bringen. Vertrauen Sie mir, dies ist keine müßige Spekulation. Ich bin bereit, Ihnen Ausreisevisa zu verschaffen, die Ihnen die Flucht in ein anderes Land ermöglichen werden. Im Gegenzug möchte ich Sie bitten, mir einen großen Gefallen zu tun. Ich habe mein Herz an Ihre Tochter verloren. Ich beobachte sie bereits seit einiger Zeit, und obwohl wir noch kein einziges Wort gewechselt haben, liebe ich sie bedingungslos. Von einer Frau wie ihr habe ich mein ganzes Leben lang geträumt, und in einer anderen Welt mit anderen Gesetzen hielte ich schon morgen um ihre Hand an. Stattdessen erbitte ich mir nur dies: Nächsten Mittwoch um zehn Uhr früh soll Ihre Tochter in den Ihrem Haus benachbarten Park gehen, sich auf ihrer Lieblingsbank niederlassen und dort zwei Stunden lang sitzen bleiben. Ich verspreche, sie nicht anzurühren, mich ihr nicht zu nähern und sie nicht anzusprechen. Ich werde mich während dieser beiden Stunden im Verborgenen halten. Um Mittag darf sie aufstehen und nach Hause gehen. Der Grund für diese Bitte dürfte Ihnen inzwischen klargeworden sein. Ich möchte meine geliebte Kleine unbedingt ein letztes Mal sehen, bevor ich sie für immer verliere …
Es versteht sich von selbst, dass sie es getan hat. Sie musste es tun, auch wenn die Familie fürchtete, der Mann könnte sie zum Besten halten oder, noch schlimmer, sie belästigen, entführen und vergewaltigen. Die Großmutter von Alecs Freundin war ein vollkommen unbedarftes Mädchen, und dass irgendein unbekannter Dante von der SS sie zu seiner geliebten Beatrice gemacht hatte, dass ein Fremder ihr in den letzten Monaten nachspioniert, ihre Unterhaltungen belauscht und sie bei ihren Gängen durch die Stadt verfolgt hatte, ließ eine panische Angst in ihr aufsteigen, die immer bezwingender wurde, je näher der Mittwoch heranrückte. Und dennoch, als die Zeit gekommen war, tat sie, was zu tun war, und marschierte mit dem gelben Stern auf dem Ärmel ihres Pullovers in den Park, setzte sich auf die Bank und schlug ihr Buch auf, ein Requisit, das sie mitgebracht hatte, um ihre Nerven zu beruhigen. Zwei volle Stunden lang hob sie nicht ein einziges Mal den Blick. Sie habe ungeheure Angst gehabt, erzählte sie ihrer Enkelin später, und die vorgebliche Lektüre sei das Einzige gewesen, was ihr Schutz geboten und sie davon abgehalten habe, einfach aufzuspringen und davonzulaufen. Unmöglich zu ermessen, wie lang ihr diese zwei Stunden vorgekommen sein müssen, aber dann hatte die Uhr doch noch zwölf geschlagen, und sie war nach Hause gegangen. Am nächsten Tag wurden die Ausreisevisa wie versprochen unter der Wohnungstür durchgeschoben, und die Familie setzte sich nach England ab.
Die letzte Geschichte kam von einem Neffen Sonias, dem ältesten Sohn des ältesten ihrer drei älteren Brüder; er hieß Bertrand, war als Einziger aus ihrer Familie Musiker geworden und schon deshalb für sie etwas Besonderes, ein Geiger im Orchester der Pariser Oper, ein Kollege und Freund. Einen Tag nach unserem Abendessen mit Alec trafen wir ihn zum Lunch bei Chez Allard, und während wir dort speisten, begann er von einer Cellistin in seinem Ensemble zu erzählen, die am Ende der Saison in den Ruhestand gehen wollte. Jeder kenne ihre Geschichte, sagte er, sie selbst habe offen davon gesprochen, er verrate also kein Geheimnis, wenn er uns das jetzt erzähle. Françoise Duclos. Keine Ahnung, warum ich ihren Namen nie vergessen habe, aber so ist es nun mal – Françoise Duclos, die Cellistin. Sie hatte Mitte der sechziger Jahre geheiratet, sagte Bertrand, und Anfang der siebziger eine Tochter zur Welt gebracht. Zwei Jahre danach war ihr Mann plötzlich verschwunden. Keine allzu ungewöhnliche Begebenheit, hieß es vonseiten der Polizei, als sie die Vermisstenanzeige aufgab, aber Françoise wusste, ihr Mann liebte sie, er war vernarrt in sein kleines Töchterchen, er hatte nichts mit einer anderen, denn das wäre Françoise nicht entgangen, so blind und beschränkt war sie nie gewesen. Da er ein anständiges Gehalt bezog, schieden auch finanzielle Gründe aus. Er liebte seinen Beruf und hatte nie eine Neigung zu Glücksspiel oder riskanten Investitionen bekundet. Was war mit ihm geschehen, warum war
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