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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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daneben ausnahm, mein Vater, der Möbelhändler, meine Mutter, die Grundschullehrerin, die Brills aus Upper Manhattan, die niemals irgendwo hingekommen waren, immer gearbeitet und ihre Miete bezahlt hatten. Sonias Vater war Professor für Biologie, einer der angesehensten Wissenschaftler Europas. Alexandre Weil – ein entfernter Verwandter des Komponisten –, in Straßburg geboren, Jude (wie du bereits weißt), und was für eine glückliche Fügung, dass Princeton ihm neunzehnhundertfünfunddreißig eine Stelle anbot und er so vernünftig war, sie anzunehmen. Wer weiß, was aus der Familie geworden wäre, wenn sie Frankreich nicht verlassen hätten? Sonias Mutter, Marie-Claude, kam in Lyon zur Welt. Was ihr Vater beruflich machte, weiß ich nicht mehr, aber ihre beiden Großväter waren protestantische Pfarrer, und damit war auch Sonia alles andere als eine typische Französin. Kein Katholik weit und breit, kein Ave-Maria, keine Besuche im Beichtstuhl. Marie-Claude lernte Alexandre kennen, als sie beide in Paris studierten; sie heirateten irgendwann Anfang der Zwanziger. Insgesamt vier Kinder: erst drei Jungen und dann, nach einer Pause von fünf Jahren, kam Sonia, das Nesthäkchen, die kleine Prinzessin, bei der Abreise nach Amerika war sie gerade einen Monat alt. Erst neunzehnhundertsiebenundvierzig kehrte die Familie nach Paris zurück. Alexandre erhielt einen bedeutenden Posten am Institute Pasteur – Directeur war sein Titel, glaube ich –, und Sonia besuchte das Lycée Fénelon. Sie war fest entschlossen, Sängerin zu werden, und wollte die Schule schon abbrechen, aber ihre Eltern bestanden aufs Abitur. Deswegen ging sie dann an die Juilliard und nicht auf das Pariser Konservatorium. Sie war stinksauer, dass ihre Eltern sie so sehr unter Druck setzten, und ist mehr oder weniger von zu Hause weggelaufen. Am Ende war freilich alles vergeben und vergessen, und als ich Sonia kennenlernte, war unter den Weils der Frieden ausgebrochen. Die Familie hieß mich in ihrer Mitte willkommen. Ich nehme an, es rührte sie, dass auch ich aus einer gemischten Familie kam – als Kind einer jüdischen Mutter und eines episkopalischen Vaters –, und das schien ihnen nach irgendeinem mystischen, ungeschriebenen Gesetz über Clans und Stammesloyalitäten die Gewähr zu bieten, dass Sonia und ich gut zueinander passen würden.
    Du greifst vor. Geh zurück ins Jahr neunzehnhundertfünfundfünfzig. Der erste Kuss. Der Augenblick, als dir klarwurde, dass du Sonia nicht gleichgültig warst.
    Eine deutliche Erinnerung, denn noch in derselben Nacht kam es vor ihrer Wohnungstür zu Körperkontakt. Sie wohnte mit zwei anderen Juilliard-Studentinnen zusammen, in einem Haus in der hundertvierzehnten Straße; wir nahmen die U-Bahn, und ich begleitete sie noch ein Stück – zwei Blocks, von der hundertsechzehnten zur hundertvierzehnten, aber schon auf dieser kurzen Strecke, und zwar gleich zu Beginn, etwa beim zehnten oder zwölften Schritt unseres Wegs, schob deine Großmutter ihren Arm unter meinen, und das Prickeln dieses Augenblicks bewahre ich bis zum heutigen Tag in meinem Herzen. Sonia ergriff die Initiative. Ich sah darin keine offene Avance – nur die stille Bekundung, dass sie mich mochte, dass unser gemeinsamer Abend ihr gefallen hatte und ihr daran lag, mich wiederzusehen –, aber diese kleine Geste bedeutete mir sehr viel … und sie machte mich so glücklich, dass ich beinahe umgekippt wäre. Dann die Tür. Gute Nacht sagen auf der Schwelle, die klassische Szene jeder beginnenden Liebesgeschichte. Küssen oder nicht küssen? Verneigung oder Händedruck? Ihr mit den Fingern über die Wange streichen? Sie in die Arme nehmen und an sich drücken? So viele Möglichkeiten, so wenig Zeit zum Überlegen. Wie erkennt man, was der andere will, wie dringt man in die Gedanken eines Menschen ein, den man kaum kennt? Ich wollte sie nicht durch allzu forsches Vorgehen verschrecken, aber ebenso wenig wollte ich, dass sie mich für einen Hasenfuß hielte, der nicht weiß, was er will. Blieb also nur der Mittelweg, und der sah so aus: Ich legte meine Hände auf ihre Schultern, beugte mich hinunter (denn sie war kleiner als ich) und drückte meine Lippen auf ihre – ziemlich fest. Kein Zungenspiel, keine Umarmung, aber dennoch ein guter, solider Kuss. Ich vernahm ein leises Rumoren in Sonias Kehle, ein gedämpftes Summen, dann ein kurzes Stocken ihres Atems, ein Sinken des Tons, schließlich etwas, was sich wie Lachen anhörte. Ich trat

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