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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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zurück, sah sie lächeln und nahm sie in die Arme. Und als nun auch sie ihre Arme um mich schlang, gab ich ihr einen richtigen Kuss, einen Zungenkuss – nach Art der Franzosen küsste ich diese Französin, die plötzlich der einzige Mensch war, der mir etwas bedeutete. Es war nur ein Kuss, aber ein langer, und dann sagte ich, um es nicht zu übertreiben, gute Nacht und ging zur Treppe.
    Pas mal, mon ami.
    Ein Kuss für die Ewigkeit.
    Jetzt brauche ich Nachhilfe in Soziologie. Wir befinden uns im Jahr neunzehnhundertfünfundfünfzig, und nach allem, was ich gehört und gelesen habe, waren die Fünfziger keine besonders gute Zeit für junge Leute. Ich meine, was Sex anging. Heutzutage fangen die meisten als Teenager damit an, und mit zwanzig sind sie dann schon alte Hasen. – Nun also du, als Zwanzigjähriger. Dein erstes Rendezvous mit Sonia ist soeben mit einem triumphal feuchten Kuss zu Ende gegangen. Ihr beide seid eindeutig scharf aufeinander. Aber die moralische Übereinkunft jener Epoche lautet: Kein Sex vor der Ehe, jedenfalls nicht für Mädchen. Ihr habt erst neunzehnhundertsiebenundfünfzig geheiratet. Du willst mir doch nicht erzählen, dass ihr euch zwei Jahre lang zurückgehalten habt?
    Natürlich nicht.
    Da bin ich aber erleichtert.
    Geilheit ist eine Konstante in der menschlichen Natur, der Motor, der die Welt antreibt, und auch damals schon, in der finsteren Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, haben Studenten gerammelt wie die Kaninchen.
    Was für eine Ausdrucksweise, Grandpa.
    Ich dachte, das würde dir gefallen.
    Das meine ich ja gerade. Es gefällt mir.
    Andererseits will ich nicht so tun, als habe es damals keine Mädchen mehr gegeben, die dem Mythos der jungfräulichen Braut anhingen, zumeist kamen sie aus der Mittelschicht, die sogenannten braven Mädchen, aber auch hier dürfen wir nicht übertreiben. Die Geburtshelferin, die deine Mutter neunzehnhundertsechzig auf die Welt holte, war Ärztin mit zwanzigjähriger Erfahrung. Als sie Sonias Dammschnitt zunähte, versicherte sie mir, sie werde einwandfreie Arbeit leisten. Mit Nadeln kenne sie sich aus wie sonst kaum eine, sagte sie, denn sie habe viel Übung darin, Mädchen für die Hochzeitsnacht wieder zuzunähen, damit die Männer denken, sie hätten eine Jungfrau geheiratet.
    Davon hab ich ja noch nie gehört …
    So waren die Fünfziger. Sex allerorten, aber die Leute verschlossen die Augen und machten sich weis, es gebe ihn einfach nicht. Jedenfalls nicht in Amerika. Für mich und deine Großmutter lagen die Dinge anders – weil sie Französin war. Auch die Franzosen heucheln auf vielen Gebieten, aber beim Thema Sex tun sie das nicht. Sonia war mit zwölf nach Paris zurückgekehrt und dort geblieben, bis sie neunzehn war. Sie war sehr viel erfahrener als ich, und sie war bereit, Dinge zu tun, bei denen die meisten amerikanischen Mädchen kreischend aus dem Bett gesprungen wären.
    Zum Beispiel?
    Dir fällt sicher etwas ein, Katya.
    Mich kannst du nicht schockieren. Ich bin aufs Sarah Lawrence College gegangen, falls du dich erinnerst? Die Sexhauptstadt der Welt. Du glaubst nicht, was ich schon alles erlebt habe.
    Der menschliche Körper verfügt über eine begrenzte Zahl von Öffnungen. Sagen wir einfach, wir haben jede einzelne von ihnen erkundet.
    Mit anderen Worten, Grandma war gut im Bett.
    So direkt hätte ich es nicht ausgedrückt, aber, ja, das war sie in der Tat. Frei von Hemmungen, eins mit ihrem Körper, sensibel für ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle. Wann immer wir es taten, war es anders als all die Male zuvor. Einmal wild und dramatisch, dann langsam und träge, immer überraschend, mit immer neuen Nuancen …
    Ich erinnere mich an ihre Hände, die Zartheit ihrer Hände, wenn sie mich streichelte.
    Zarte Hände, ja. Aber auch kräftige Hände. Kluge Hände. So kamen sie mir immer vor – wie Hände, die sprechen konnten.
    Habt ihr schon vor der Hochzeit zusammengelebt?
    Nein, nein, das war vollkommen ausgeschlossen. Wir mussten immer furchtbar aufpassen. Manchmal fanden wir die Heimlichtuerei aufregend, meistens aber ziemlich frustrierend. Ich wohnte noch bei meinen Eltern in Washington Heights, besaß also nichts Eigenes. Und Sonia hatte ihre beiden Mitbewohnerinnen. Wenn die nicht da waren, trafen wir uns bei ihr, aber das kam auch nicht gerade häufig vor – jedenfalls nicht oft genug.
    Und Hotels?
    Kamen nicht in Frage. Selbst wenn wir uns das hätten leisten können, es wäre schlicht zu gefährlich gewesen. In

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