Manöver im Herbst
Eiche einen Kirschzweig pfropft, wird sie nie und nimmer zum Kirschbaum werden.
»Es ist also nichts mit'n Flitzer?« fragte Fritz noch einmal.
»Nein! Wenn du einundzwanzig Jahre bist und Offizier wirst …«
»Danke. Ich laufe lieber zu Fuß …«
Schütze hörte hinter sich die Tür klappen. Er stützte sich auf den Schreibtisch und starrte auf die blankpolierte Platte.
»Welch eine Jugend«, sagte er noch einmal. »Was ist aus unserem Preußentum geworden –«
Die Frage wurde bald beantwortet.
Heinrich Emanuel Schütze bekam eine Einladung. Schon die Aufschrift veranlaßte ihn, den Brief herumzuzeigen. Seit Jahren zum erstenmal wieder stand da ganz deutlich:
Herrn Oberstleutnant a.D. H. E. Schütze.
Vom Ministerium. Einladung zum Herbstmanöver der Bundeswehr. In der Oberpfalz.
Schütze trug den Brief herum wie eine tausendjährige Papyrusschriftrolle. »Man hat mich nicht vergessen«, kommentierte er die Einladung. »Hier – Oberstleutnant. Da steht's. Man lädt mich nicht als Zivilisten ein, sondern als Offizierskameraden. Das tut gut, Amelia … das geht noch einmal an das alte Herz …«
Eine Woche lange wurde die Abreise ins Manöver vorbereitet. Die gesamte Familie Schütze einschließlich der Eingeheirateten nahm daran teil. Es zog ein Wirbelwind durch die Villa am Hang, Fritz handelte sich trotz Humanist eine Ohrfeige ein, weil er im Keller einen alten Degen fand und damit erschien. »Nimm ihn mit«, sagte er. »Wenn du müde wirst, kannste dich darauf stützen.« Da schlug Schütze zu, seit Jahren zum erstenmal.
Als er abfuhr, atmete die Familie auf und setzte sich erschöpft in die Sessel. Giselher-Wolfram entkorkte einige Flaschen Wein.
»Auf Papa!« rief er, als er das Glas hob. »Morgen steht er endlich da, wovon er seit 1913 träumte: Auf dem Feldherrnhügel –«
Amelia ließ das Glas sinken. Ihr schmales, im Alter jetzt wie Porzellan wirkendes Gesicht war sorgenvoll.
»Ich habe Angst«, sagte sie leise.
»Angst? Wovor?«
»Angst um Vater. Ihr kennt ihn doch. Wenn er auf dem Feldherrnhügel steht, ist das seine Schlacht, die er vor sich sieht. Und wenn irgend etwas nicht so geht, wie er es sich ausdenkt, sagt er ohne Hemmung den Generalen, daß sie Nichtskönner sind –«
»Na, dann Prost!« rief Fritz.
»Es kann ein Drama werden, was ihr als Komödie betrachtet.« Amelia saß klein und zerbrechlich zwischen ihren Kindern. »Worüber ihr lächelt, ist bei ihm bitterer Ernst. Wenn nur das Manöver schon vorüber wäre … Bisher ist er bei jedem Manöver ausgerutscht –«
*
Der Angriff war in vollem Gange. Ein ganzer Landstrich war bereits ausgeschaltet worden. Eine Atombombe war gefallen. Schütze sah die verbrannte Erde vor sich … ein Gebiet, so groß wie das Rheinland, gab es nicht mehr. Ihn schauderte vor dieser grandiosen Vernichtung. Aber irgendwie beglückte es ihn, daß die Angst vor diesem weltweiten Grauen der beste Garant des Friedens wurde.
Er stand an einem Scherenfernrohr und sah auf die Panzer, die heranrollten. Ungetüme in Ketten, Urweltriesen, gegen die es keine Rettung gab.
Sein Herz zuckte. Ich stehe auf dem Hügel, an einem Scherenfernrohr. Neben mir die Generale, der Minister, der Präsident. Die ausländischen Militärattaches. Und da vorn jagen sie durchs Gelände … auf Schützes Socken, mit Schützes Unter- und Oberhemden …
Sein großer Traum erfüllte sich. Er erlebte den Höhepunkt seines Daseins, und er genoß ihn in aller Fülle und mit dem schlürfenden Trunk eines Genießers.
Er hörte nicht, was hinter und neben ihm die Generale sprachen. Er verfolgte den Angriff in jeder Phase. Zwar war er anderer Ansicht … nach seiner Auffassung hätte man die gegnerischen Truppen anders für den Sturm vorbereiten müssen.
Aber er schwieg. Er ballte nicht die Fäuste und schrie: »Welcher Idiot hat das da befohlen?!« – Nein. Ganz still stand er an seinem Fernrohr und dirigierte im stillen die Truppen nach seinem Plan.
Er sah sie einschwenken, er sah die Panzerwelle stocken, er sah die Detonation der Geschütze, die Einschläge, das Sperrfeuer, die kleinen Gruppen der Grenadiere … und obgleich vor ihm fast alles still war, entfaltete sich vor seinen träumenden Augen das grandiose Bild einer Schlacht, eine machtvolle Demonstration der Stärke, eine das Herz ergreifende Schönheit militärischer Führung.
Eine Hand berührte seine Schulter. Schütze zuckte zusammen. Das Bild zerrann. Er sah sich um. Einer der Generale stand hinter
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