Manöver im Herbst
einem militärisch-knappen »Tschtsch!«, wandte sich dann der Straße zum Dorfplatz zu und beobachtete aus den Augenwinkeln, ob sich hinter den Fenstern der anderen Quartiere etwas rührte als Reaktion auf das Wecksignal.
Der Bläser und der Trommler hatten ihre Pflicht erfüllt. Sie wollten gerade nebeneinander abmarschieren, als ihnen Fähnrich Schütze mit der Uhr in der Hand in den Weg trat. Die beiden morgendlichen Musikanten blieben stehen, starrten auf die Uhr, dann auf Schützes glattes, jugendliches, aber irgendwie ausdrucksloses Gesicht und fielen ohne Kommando in ein steifes Strammstehen, als Schütze sie ansprach.
»Zwei Minuten drüber!« sagte er laut. Es war nicht seine Art, zu schnauzen wie ein Unteroffizier oder zu brüllen wie ein Vizefeldwebel. Er war gut zu seinen Leuten – das hatte er auch immer an Vater und Mutter geschrieben – er war streng, aber gerecht. Er verletzte nicht die Würde des einzelnen – er gab ihnen nur Beispiele der eigenen Unzulänglichkeit.
Der Bläser blinzelte mit den Augen. »Herr Fähnrich …«, sagte er stockend.
»Zwei Minuten.« Heinrich Emanuel schüttelte den Kopf. »Wer auf dem Schlachtfeld zwei Minuten zu spät kommt, kann einen Sieg verpassen. Ist das klar?«
»Jawoll, Herr Fähnrich. Aber –«
»Und was ist ein Manöver?«
»Eine Probe für den Ernstfall, Herr Fähnrich. Aber –«
»An zwei Minuten kann das Schicksal einer Armee hängen.«
»Ich habe mit Herrn Leutnant die Uhr verglichen.«
Heinrich Emanuel Schütze horchte auf. Der Leutnant war sein Vorgesetzter. Noch war er es. Nach dem Manöver würde auch Schütze Leutnant sein. Hauptmann Stroy hatte es durchblicken lassen. Das Manöver sollte seine militärische Reifeprüfung werden.
»Wann?« fragte Schütze.
»Gestern abend, Herr Fähnrich.«
»Dann geht meine nachts über zwei Minuten vor.« Heinrich Emanuel sah auf seine große silberne Einjährigen-Uhr. Sie hatte sich nie geirrt. Aber wenn die Uhr des Leutnants – noch sein Vorgesetzter – zwei Minuten nachging, so war die Uhr des Leutnants maßgebend. Es gab da keinen Widerspruch. Der Untergebene irrt immer. Nach dem Manöver, wenn man selbst Leutnant war, würde man mit Leutnant Petermann die Uhren abstimmen. Vielleicht einigte man sich auf eine Differenz von einer Minute.
Aus den Quartieren kamen die Soldaten. Die Kaffeeholer trabten mit großen Blechkannen zur Gemeindescheune, wo die Feldküche installiert war. Die ersten Bäuerinnen und Mägde gingen zu den Ställen, das Vieh zu versorgen. Einige Zurufe, die die Kaffeeholer den Mädchen zuwarfen, erregten das Mißfallen Schützes. Durch den aufreißenden Nebel kam Leutnant Petermann ins Dorf geritten. Er hatte den feldgrauen Überzug seiner Pickelhaube abgenommen. Die ersten, durch den milchigen Himmel brechenden Sonnenstrahlen verfingen sich in dem goldenen Adler, der die Stirnseite krönte. Heinrich Emanuel Schütze biß die Zähne aufeinander.
Er sieht aus wie ein Offizier des Gardes du Corps, dachte er. Er ist ein Angeber. Außerdem ist er mit einer Bürgerlichen verheiratet, mit einer Gemüsehändlerstochter. Die Leute haben zwar Geld, aber keine Rasse. Wie anders war da Amelia v. Perritz, zweite Tochter des Freiherrn v. Perritz auf Perritzau. Er hatte sie bei einer Außenübung des Grenadierregiments König Friedrich Wilhelm II. Nr. 10 kennengelernt, damals, in der Umgebung von Schweidnitz, wo er in Garnison lag. Beim kleinen Manöverball wurde er ihr vorgestellt, hatte mit Amelia getanzt, sie viermal heimlich getroffen und einmal auf die Stirn geküßt. Drei Wochen hatte er damals damit verbracht, sein aufgeregtes Inneres zu besänftigen, mit Vater und Mutter in Breslau über seine geheimsten Pläne zu korrespondieren, seine Aufstiegsaussichten auszurechnen und schließlich an Amelia v. Perritz einen langen Brief zu schreiben, der mit »Gnädigste, bewundernswerteste, ersehnte Freundin …« begann und mit »immer Ihr untertänigster, kühner und nach Antwort durstender H.E. Schütze …« endete.
Nun fanden die Kaisermanöver 1913, die großen Herbstprüfungen der deutschen Armee, in Schlesien statt. Es war ein Glücksumstand, daß das 1. Schlesische Regiment Nr. 10 in und um Trottowitz lag, vier Kilometer vom Gut der Perritz entfernt. Es war für Heinrich Emanuel ein besonderer Ansporn: Unter den Augen Amelias würde er zum Leutnant werden und damit den Wert erreichen, um ihre Hand anzuhalten.
Leutnant Petermann ritt vorbei. Er wollte zur Schreibstube. Schütze
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