Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
die Berge, und ich rannte in diese Richtung weiter. Aus irgendeinem Grund wollten meine Arme und Beine nicht richtig funktionieren. Ich stolperte und stürzte mehr als einmal. Aber jedes Mal, wenn ich stehen blieb, mei n te ich, r u fende Stimmen hinter mir zu hören, und das trieb mich vorwärts.
Ich kam an einen Zaun und entdeckte dahinter den Kirchhof. Soldaten standen vor dem Tor Schlange, aber ich lief einfach an ihnen vorbei und ließ mich dann auf eine Steinbank neben der Kirchentür sinken. Ich konnte sie nicht länger rufen hören und atmete erleichtert aus. Meine Hände bluteten, seit ich über diesen Stacheldrah t zaun geklettert war. Ich wischte sie an der Hose ab und schloss die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, bemerkte ich, dass mich ein junger Gefreiter mit einer Spur von Belustigung be o bachtete. Die anderen Soldaten waren inzwischen in die Kirche gegangen; er war der Einzige, der noch draußen war. Er blieb an der Tür stehen. »Die Messe fängt gleich an«, sagte er. »Kommst du nicht rein?« Ich schüttelte den Kopf.
Drinnen wurde ein Loblied angestimmt, und es ließ mich daran denken, wie Stirling auf dem Heimweg von der Kirche immer vor sich hingesummt hatte. Und da wurde mir klar, dass, selbst wenn ich es zurück nach K a litzstad schaffen sollte, nichts wieder in Ordnung sein würde. Ich wünschte, ich hätte mich von ihnen ins G e fängnis stecken lassen. Manchmal konnten körperliche Entbehrungen das Denken ausschalten. »Geht es dir gut?«, fragte der Soldat, der mich immer noch musterte. »Du wirkst irgendwie besorgt. Du musst einer dieser K a detten sein, die sie plötzlich eingezogen haben.«
Die Hymne verklang, und er sah in die Kirche, rührte sich aber trotzdem nicht von der Stelle. »Du bist nicht religiös?« Er wandte sich wieder mir zu. Ich schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht«, sagte er. »Aber ich bin auf dem Weg an die Grenze. Ich will zur Messe gehen, bevor wir abmarschieren. Vielleicht ist das die falsche Art zu glauben.« Er zuckte mit den Schultern.
»Ich habe zu Hause einen Bruder etwa in deinem A l ter. Er wird fünfzehn und arbeitet unten am Hafen. Er hat mir versprochen, sich um meine Frau und meine kleine Tochter zu kümmern.«
Ich gab keine Antwort. Mein Herz schlug so laut, dass ich ihn zwischendurch nicht verstehen konnte.
Er schien es nicht zu bemerken. Er zögerte, dann set z te er sich neben mich auf die Bank und kramte in seiner Tasche herum. Er zog ein Blatt Papier hervor und glättete es vorsichtig. »Mein kleines Mädchen hat das gezeichnet. Sie ist erst drei, aber sie kann schon zeichnen. Sieh mal.« Er begann zu erklären, was das Bild darstellen sollte. Ich sah ihn weiter wortlos an. Obwohl ich seinen Worten kaum folgen konnte, wollte ich gleichzeitig nicht, dass er mich hier allein zurückließ. Er folgte jeder Linie des Kinderbilds mit dem Finger, dann faltete er es zusammen und steckte es zurück in die Tasche.
Als er schließlich aufstand, um in die Kirche zu gehen, hatten die Psalme bereits begonnen. Er sah mich einen Moment lang stirnrunzelnd an, so als würde er mich erst jetzt richtig wahrnehmen. »Ist das deine Waffe? Sie g e ben euch Kadetten Schusswaffen?« Dann zuckte er mit den Achseln. »Um ehrlich zu sein, überrascht mich bei di e sem Krieg gar nichts mehr. Lass sie mich mal ans e hen.«
Er nahm mir schweigend die Pistole aus der Hand, überprüfte sie und drückte den Sicherungshebel nach hi n ten. »Haben sie dir das nicht beigebracht? Lass ihn in dieser Stellung. Sonst passiert noch ein Unglück.« Er gab sie mir zurück. »Also dann, mach ’ s gut. War nett, mit dir zu sprechen.« Er drehte sich um und betrat die Kirche.
Ich wartete, dass sich mein Herzschlag verlangsamte, aber die Minuten vergingen, und er tat es nicht. Schlie ß lich stand ich auf und überquerte den Kirchhof. Jenseits des Zauns konnte ich Reihe um Reihe identischer Kriegsgräber sehen. Sie erstreckten sich über einen K i lometer oder noch mehr den Hügel h in auf. Ich blieb am Zaun stehen, wo die Sommerblumen und langen Gräser abrupt endeten, und betrachtete diese zahllosen Gräber. Anschließend schaute ich über sie hinweg und ließ den Blick über die Kornfelder und die Sümpfe und die Au s läufer der Östlichen Berge schweifen. In der Ferne war Kalitzstad als unscharfe, rote Insel zu erkennen. Ich dachte daran, über den Zaun zu klettern und dorthin z u rückzulaufen.
Doch das Nächste, woran ich mich erinnern konnte, war, dass ich auf den
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