Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
schon.« Der Gefreite sprach mit gesenkter Stimme. »Wegen dem, was mit seinem Bruder passiert ist.«
»Was ist mit seinem Bruder passiert? Der Junge hat nichts davon gesagt.«
Sie sahen sich schweigend an. Ich starrte zu Boden. Dann erklärte ihm der Gefreite, was geschehen war.
»Hey, jetzt wein doch nicht«, sagte er dann an mich gerichtet. Mir lief die Nase, aber ich konnte nichts dag e gen tun, weil meine Hände gefesselt waren. »Er sollte bei seiner Familie sein. Dies alles ist ein Missverständnis, und zum Teil trage ich selbst die Schuld daran.«
Der Sergeant zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. »Du hättest es mir erzählen sollen«, sagte er. »Ich hätte dich nicht dazu genötigt mitzukommen, wenn du es mir gesagt hättest.«
Ich sah weg. Sie diskutierten weiter, aber ich hörte nicht zu. Dann sprach der Sergeant wieder, sein Gesicht dicht an meinem. »Hör zu! Was auch immer die Hinte r gründe sind, du hast dich des versuchten Mordes schu l dig gemacht. Das ist endgültig. Tut mir leid.«
Ich wusste nicht, was das bedeutete. Ich setzte mich auf den Boden und schloss die Augen. »Passen Sie auf ihn auf«, wies er den Gefreiten leise an, dann ging er z u rück zum Haus, um die anderen Jungen für ihren A b marsch in Richtung Grenze bereit zu machen. Der Junge mit dem Silberzahn beschwerte sich noch immer darüber, dass ich seine Pistole genommen hatte, aber der Sergeant beachtete ihn nicht.
In genau diesem Moment erkannte ich, dass die Waffe noch immer vor meinen Füßen lag.
Der Sergeant stand mit dem Rücken zu mir in dem kleinen Haus. Ich warf dem Gefreiten einen verstohlenen Blick zu. Er saß auf der Eingangsstufe eines der zerstö r ten Häuser und betrachtete seine gefalteten Hände. Ich überlegte, ob er gelähmt war vor Schuldgefühl, weil er vergessen hatte, dem Sergeant zu sagen, was passiert war, oder ob er an etwas völlig anderes dachte. Ich b e wegte mich leise. Er sah nicht auf. Da beschloss ich, zu fliehen und nach Kalitzstad zurückzulaufen. Und ein Stein fiel mir vom Herzen.
Ich erinnerte mich an einen Trick, den ich als kleiner Junge eingeübt hatte. Ich ballte die Fäuste und stellte mir vor, wie sich der Strick um meine Handgelenke löste. Ich konzentrierte mich so heftig, dass ich einen Moment lang nichts sehen konnte. Der Knoten lockerte sich. Ich zwang ihn weiter auf. Ich dachte an nichts anderes mehr, als daran, meine Hände zu befreien. Ich konnte meine Han d gelenke jetzt bewegen. Ich hörte auf und atmete wieder ein.
Aber sobald ich aufgehört hatte, fühlte ich mich plöt z lich, als würde ich fallen. Ich erinnerte mich, dass Sti r ling tot war.
Ich hatte furchtbare Angst, ins Nichts zu stürzen. Ich redete mir ein, dass, wenn ich es nach Kalitzstad schaffte, alles wieder in Ordnung sein würde, und war nur mäßig überrascht, als ich anfing, es zu glauben. Ich schloss die Augen und versuchte, mein Herz daran zu hindern, so schnell zu schlagen. Dann hielt ich die Luft an und sprengte den Knoten. Der Strick löste sich, aber ich hielt ihn fest, damit er nicht runterfallen konnte.
Der Gefreite sah auf. »Es tut mir wirklich leid«, sagte er mit gedämpfter Stimme. » Ich weiß nicht, was ich w e gen dieser Sache unternehmen soll.« Ich antwortete nicht. Er stand auf, legte sich die Hände an die Schläfen und ging ein paar Meter die Straße runter. In diesem Moment bewegte ich mich. Ich hob die Waffe auf.
Der Sergeant, der plötzlich in der Tür auftauchte, schrie: »Saltworth, verflucht! Ich habe gesagt, Sie sollen auf ihn aufpassen!« Er machte einen Schritt nach vorne.
Dieses Mal zielte ich sorgfältiger. Ich schoss die Scheiben aus den Fenstern des Hauses. Der Sergeant warf die Arme hoch, um sein Gesicht zu schützen, wä h rend die anderen Jungen schreiend und rempelnd zur Tür drängten. Ich drehte mich um und rannte los.
Ich hörte, wie sie mir hinterherriefen, aber ich ign o rierte es. Ich rannte eine Seitengasse entlang, jagte über den Hinterhof eines Gasthauses und tauchte in einer a n deren Straße wieder auf. Ich blieb nicht stehen. Einzelne Sold a ten drehten sich zu mir um, als ich an ihnen vorbe i lief, aber sie hatten zu tun, und niemand hielt mich auf. Ich erkämpfte mir den Weg durch einen alten Stacheldrah t zaun und über ein brachliegendes Grundstück, im näch s ten Augenblick hastete ich wieder durch die engen Str a ßen. Irgendwo vor mir läutete eine Kirchenglocke. Plöt z lich entdeckte ich das Kreuz auf dem Turm und d a hinter
Weitere Kostenlose Bücher