Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
ertragen als zuvor. Es war seltsam, denn ich war plötzlich so erschöpft davon, unglücklich zu sein. Ich wünschte, ich müsste nicht weinen. Ich wünschte, ich könnte lachen. Ich wünschte, ich könnte mir über so b e langlose Fragen den Kopf zerbrechen, wie zum Beispiel, ob ich tatsächlich Soldat werden musste. Ic h w ünschte, ich könnte mit Maria flirten. Ich konnte es nicht genau verstehen, sondern ich wusste nur, dass der alte Leo – der Leo, der jetzt tot war – all diese Dinge tun wollte, aber der Geist, der zurückgeblieben war, hatte weder den Mut noch die Kraft, irgendetwas zu tun. Ich würde diese Di n ge nie wieder tun. Ich fühlte mich weit entfernt von a l lem, was ich zuvor gewesen war. Und dann erinnerte ich mich, dass es noch keine zwei Tage her war, und meine Verzweiflung wurde so groß, dass ich mir wünschte, ich wäre tot.
Leise bewegte ich mich. Meine Muskeln waren vom langen Herumstehen in der feuchten Uniform ganz steif, aber ich schaffte es, quer durch den Raum bis zu der Ste l le zu humpeln, wo der Junge mit dem silbernen Zahn schlief. Ich kniete mich neben ihn, sah zu, wie er lan g sam ein- und ausatmete und passte meine eigenen Ate m züge seinen an. Dann legte ich meine Hand auf die Wa f fe. Es war eine Delmar . 45 – eine Armeepistole.
Ich löste die Waffe aus seinen Fingern, entsicherte sie, spannte den Hahn, dann stand ich auf und ging zum Fe n ster zurück. Mit dem Rücken zum Licht richtete ich sie nacheinander auf jeden der Jungen. Ich weiß nicht, w a rum ich das tat. Dann schloss ich die Augen und stel l te mir vor, wie es sein würde zu sterben – ein kurzer Schmerz, und dann nichts mehr; ich würde vor dem hier, vor allem, in die weiße Stille fliehen. Ich hielt mir die Pistole an die Schläfe. Ich hatte keine Angst. Es fühlte sich an, als würde ich gegen Gott ankämpfen; gegen Gott und seinen Plan für mein Leben. Und dann sprach j e mand. Es war meine eigene Stimme, aber sie klang wie die von jemand anderem, und ich konnte nicht unte r scheiden, ob ich sie laut hörte oder nur in meinem Kopf. »Selbst wenn du tot bist«, sagte sie, »wird das Stirling nicht wieder lebendig machen.« Aber ich werde nicht mehr wissen, dass er tot ist, dachte ich. Ich werde gar nichts wissen. Da wird nichts mehr sein. »Die Hölle kommt ers t n ach dem Tod«, behauptete die Stimme. Aber daran glaubte ich nicht.
Da sah ich wieder Großmutter, wie sie geweint hatte, als ich ihr den Rücken zugekehrt hatte und in den Regen hineingelaufen war. Und plötzlich überlegte ich es mir anders.
Jemand stieß die Tür auf. Es war der Sergeant, der von seiner Nacht im Gasthaus verkatert zu sein schien. Mit einer Hand hielt er sich den Kopf, in der anderen hatte er einen Korb voll Essen. Er sah mich an, und ich starrte zurück. Dann nahm ich langsam die Waffe von meiner Schläfe und richtete sie auf ihn.
Er starrte mich wortlos an. Er ließ den Korb fallen und machte eine winzige Bewegung zu der Pistole an seiner Seite, die identisch war mit der, die ich in der Hand hielt. Ich machte eine noch winzigere Bewegung mit meinem Kopf, um ihn davon abzuhalten. Er verharrte ganz still. Ich legte beide Hände fest um den Griff, um die Pistole ruhig zu halten. Er glaubte nicht, dass ich es tun würde. Wenn er es geglaubt hätte, dann hätte er versucht, sie mir zu entreißen. Er dachte, dass es ein Scherz wäre. Ich dachte das irgendwie auch, war mir aber nicht ganz s i cher.
Da war Zorn in seinem Gesicht, aber gleichzeitig auch eine Spur Belustigung. So als ob ich ein Kind wäre, das ein Spiel viel zu weit getrieben hatte. Es erinnerte mich an den Gesichtsausdruck meines Vaters, als ich ihm im Alter von etwa fünf die teure Armbanduhr weggeno m men hatte und anschließend wild kichernd damit heru m gerannt war, während er sich immer mehr verspätete und nicht wusste, ob er lachen, mich anbrüllen oder mir hi n terherjagen sollte. Ich war sauer auf ihn gewesen, weil er damals wegen der Veröffentlichung von »Die Sünden des Judas ’ « fast jeden Tag zu einer Besprechung musste. Ich lief immer weiter, weil ich das Spiel schon so sehr überreizt hatte, dass ich keinen Rückzieher mehr machen konnte. Und dann gab ihm meine Mutter ihre Uhr, und er hetzte die Straße hinunter, und als er sich umdrehte, um zu winken, sah ich, das s e r erschöpft wirkte und nicht lächelte. Das Lachen erstarb mir in der Kehle, und ich wünschte mir, ich hätte sie ihm gleich am Anfang z u rückgegeben.
Ich tauchte
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