Manta 02 - Orn
sein, denn in seinen Erinnerungen gab es keine Hinweise auf Untiefen. Voll ausgewachsen waren die früheren Überquerer bessere Schwimmer gewesen und hatten kompetente Übersichten von der lokalen Geographie erstellt. Es gab ein klares Bild von tiefem Wasser an dieser Stelle. Die Konturen des Lands und der Insel hatten sich verändert und die Bilder verwischt, aber die Tiefe des Wassers war ein stabiler Faktor.
Er stand, und der Ozean um ihn herum wich zurück, während die vom Wind mitgeschleppten Fragmente nach unten rieselten. Eine Landbrücke stieg aus den Wellen empor, überzogen von einem Belag aus Seetang.
Nein, dies war keine Sandbank, obwohl es hier nicht so tief war wie einstmals. Statt dessen zog sich das Wasser zurück und legte den Grund des Ozeans frei. Er konnte zur anderen Seite hinüberwandern, aber er begriff, daß seine Überlebenschancen noch weiter abgesunken waren. Zu den Erdbeben und Vulkanen war eine dritte Drohung gekommen.
Er stand auf einem uralten Korallenriff, dessen Skelette jetzt größtenteils zerbrochen waren. Große Schwämme wuchsen aus den Spalten hervor, Quallen lagen hilflos ausgestreckt da. Die meisten echten Fische waren mit dem Wasser geflohen, aber einige wenige waren in muschelverkrusteten Höhlen gefangen. Krebse, deren Zangen plötzlich zu toten Gewichten geworden waren, krabbelten verzweifelt hin und her, und ein Seestern, der sich um eine Muschel geschlungen hatte, fand sich jetzt als Opfer der Umstände wieder.
Dies war eine Welt, mit der Orn nicht sehr vertraut war. Und trotz der Gefahr - oder vielleicht weil er die Hoffnung, weiterleben zu können, aufgegeben hatte, als er begriff, was das Zurückweichen der See bedeutete - nahm er alles aufmerksam in sich auf. Es gab viele Meerespflanzen, die er selten gekostet hatte, nicht einmal in der Erinnerung. So viele exotische Lebensformen! Viele hatten sich kaum verändert, seit seine Vorfahren das Wasser verlassen hatten, andere hingegen waren ziemlich neu. Er wollte so viel wie möglich lernen, bevor er die Möglichkeit dazu für immer verlor.
Während er dies alles beobachtete, hatte er seinen Weg fortgesetzt und war dem Ufer näher gekommen.
Trotz der Sinnlosigkeit begann er nun, seinen Reflexen nachzugeben. Hinter ihm kam das, womit er fest gerechnet hatte: eine gewaltige Wasserwoge, die sich zehnmal schneller fortbewegte, als seine höchste Laufgeschwindigkeit betrug. Um seine Füße herum stieg der Wasserspiegel wieder gemächlich an. Aber die Hauptwelle war eine ganz andere Sache.
Die Woge würde ihn zerschmettern. Es gab keinen Weg, sich rechtzeitig aus ihrer Reichweite zu entfernen. Es hatte nie eine gegeben, seit das Wasser zurückgegangen war. Aber der blinde Überlebensinstinkt jagte bei diesem Anblick durch seinen Körper, und er mußte auf diesen eingehen. Er schlug mit den Flügeln und streckte den Hals nach vorne. Alle Kraft in den Lauf legend, rannte er, ohne auf seine Füße Rücksicht zu nehmen, auf den gezackten Korallen entlang. Als die gigantische Woge über das flache Inselplateau hinwegging, hörte er sie. Höher und höher ragte sie auf. Sie hatte die Vorwärtsbewegung gegen den Höhengewinn ausgetauscht, schloß die Lücke aber weiterhin rapide.
Die Verlangsamung der Geschwindigkeit beim Gewinnen der Höhe war in seiner Erinnerung nicht klar gewesen. Er hatte noch mehr Zeit als vermutet, aber trotzdem nicht genug. Er rannte weiter.
Plötzlich war der Strand des Festlandes da, und er stolperte darüber hinweg. Er stürzte sich in das Unterholz, übersprang das, was er bewältigen konnte, zwängte sich durch den Rest hindurch, ohne darauf zu achten, daß bei der Prozedur sein Gefieder arg mitgenommen wurde.
Es wurde dunkel. Der Schatten der Welle umfing ihn. Der Wind war plötzlich eisig und bewegte sich dem Wasser entgegen.
Immer noch rannte er, über Felsen, um Bäume herum, weg vom Strand. Er hatte erwartet, daß die aufgetürmte Wasserwand viel früher auf ihn stürzen würde, um alles zu beenden, aber das Verderben hing in der Luft, hing in der Luft.
Und fiel.
Der Schlag kam so abrupt, daß er sich selber erst bewußt wurde, als er hochgerissen und vorwärtsgeschleudert wurde, vollkommen vom Wasser gefangen und hilflos. Es war so, als würde er in einer reißenden Meeresströmung ertrinken, aber er wurde herumgewirbelt und sah eine Landschaft am Himmel, die zur Seite wegkippte.
Dann sank er durch immer nachgiebiger werdenden Schaum, den Halt verlierend, aber nicht wirklich fallend.
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