Mantel, Hilary
Liebling, Meg, sitzt zu Füßen ihres Vaters mit einem Buch auf den
Knien. Locker um den Lordkanzler herum versammeln sich sein Sohn John, sein
Mündel Anne Cresacre, die mit John verheiratet ist, Margaret Giggs, ebenfalls
sein Mündel, sein alter Vater, Sir John More, seine Töchter Cicely und
Elizabeth, Pattinson mit Kulleraugen und am Rand des Bildes seine Frau Alice,
die ein Kreuz trägt und den Kopf senkt. Meister Holbein hat sie mit Kennerblick
gruppiert und für immer festgehalten: Solange keine Motte daran zehrt, keine
Flamme oder Schimmel oder Fäulnis.
Im wirklichen Leben hat ihr
Gastgeber etwas Ausgefranstes an sich, eine Anmutung davon, dass sich Gewebe
auflöst; da er nicht im Dienst ist, trägt er ein einfaches Gewand aus Wolle.
Damit sie den neuen Teppich inspizieren können, liegt er auf zwei Tischen
ausgebreitet. Der Untergrund ist nicht purpurrot, er hat lediglich eine
rötliche Tönung: kein Färberrot, denkt er, sondern ein mit Molke gemischter
roter Farbs toff. »Mylord
Kardinal mochte türkische Teppiche«, murmelt er. »Der Doge hat ihm einmal
sechzig Stück geschickt.« Der Teppich besteht aus weicher Wolle von
Bergschafen, von denen aber keines schwarz war; wo das Muster am dunkelsten
ist, fühlt sich die Oberfläche bereits brüchig an, das kommt vom
ungleichmäßigen Färben, und mit der Zeit und dem Gebrauch könnte das Material
zerbröseln. Er schlägt eine Ecke hoch und fährt mit den Fingerspitzen über die
Knoten, zählt sie routiniert Zoll um Zoll. »Das ist der Ghiordesknoten«, sagt
er, »aber das Muster stammt aus Pergamon - sehen Sie den achtzackigen Stern
hier innerhalb der Achtecke?« Er streicht die Ecke wieder glatt, entfernt sich
ein paar Schritte, kommt zurück, sagt »da« - beugt sich vor, legt eine Hand sanft
auf den Makel, die Unterbrechung des Musters, die leicht verzerrte Raute, die
verzogene Stelle. Im schlimmsten Fall besteht der Teppich aus zwei
zusammengestückelten Teppichen. Im besten wurde er vom Pattinson des Dorfes
gemacht oder im letzten Jahr von venezianischen Sklaven in einer obskuren
Werkstatt zusammengeschustert. Um sich zu vergewissern, müsste er ihn komplett
wenden. Sein Gastgeber sagt: »Kein guter Kauf?«
Er ist schön, sagt er, weil er
More nicht die Freude verderben will. Aber nächstes Mal, denkt er, nimm lieber
mich mit. Seine Hand streicht über die dicke, weiche Oberfläche. Der Fehler im
Muster hat keine große Bedeutung. Ein türkischer Teppich steht nicht unter
Eid. Es gibt Leute auf dieser Welt, die alles akkurat und präzise haben wollen,
und es gibt welche, die leichte Abweichungen an den Rändern erlauben. Bei ihm
trifft beides zu. Er würde zum Beispiel keine leichtsinnige Unklarheit bei
einem Mietvertrag erlauben, aber sein Instinkt sagt ihm, dass ein Vertrag
manchmal nicht zu eng gefasst werden sollte. Mietverträge, Verfügungen, Gesetze
werden geschrieben, um gelesen zu werden, und jede Person liest sie im Licht
des Eigeninteresses. More sagt: »Was meinen Sie, meine Herren? Soll man darauf
herumlaufen oder ihn an die Wand hängen?«
»Darauf herumlaufen.«
»Thomas, Sie sind verwöhnt!«
Und sie lachen. Man könnte denken, sie wären Freunde.
Sie gehen zur Voliere hinaus;
dort bleiben sie stehen und vertiefen sich in ihre Unterhaltung, während die
Finken herumflattern und singen. Ein kleines Enkelkind kommt angetapst; eine
Frau mit einer Schürze bewacht ihn oder sie. Das Kind zeigt auf die Finken,
gibt freudige Laute von sich, flattert mit den Armen. Es sieht Stephen
Gardiner; der kleine Mund verzieht sich. Das Kindermädchen greift ein, bevor es
zu Tränen kommt; wie ist es, fragt er Stephen, eine solch unmittelbare Macht
über die Jugend zu haben? Stephen sieht ihn böse an.
More nimmt ihn am Arm. »Nun,
zu den Colleges«, sagt er. »Ich habe mit dem König gesprochen, und unser guter
Master Gardiner hat sein Bestes getan - das hat er wirklich. Der König könnte
Cardinal College in seinem Namen neu gründen, aber für Ipswich gibt es keine
Hoffnung, schließlich ist es nur ... tut mir leid, das sagen zu müssen, Thomas,
aber es ist nur der Geburtsort eines Mannes, der in Ungnade gefallen ist, und
kann deshalb keinen besonderen Anspruch erheben.«
»Es ist sehr schade um die
Scholaren.«
»Das ist es natürlich. Sollen
wir hineingehen und essen?«
In Mores großer Halle wird das
Gespräch ausschließlich auf Lateinisch geführt, obwohl die Gastgeberin, Mores
Frau Alice, kein einziges Wort versteht. Als Tischgebet
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