Mantel, Hilary
nennt ihn
einfach nur »Sie«. Sie finden diesen Witz wunderbar und eine Zeitlang rufen sie
jedes Mal, wenn Mr W auftaucht: »Da kommt >Sie Habt Erbarmen, sagt er, mit
Master Wriothesley. Männern, die in Cambridge studiert haben, sollten wir
Respekt erweisen.
Er würde sie gerne fragen -
Richard, Rafe, Master Wriothesley-nennt-mich-Risley: Sehe ich wie ein Mörder
aus? Es gibt einen Jungen, der das behauptet.
Dieses Jahr hat es keine
Sommerseuche gegeben. Die Londoner sagen auf den Knien Dank dafür. Die ganze
Johannisnacht über brennen die Freudenfeuer. In der Morgendämmerung werden
weiße Lilien von den Feldern gebracht. Die Töchter der Stadt flechten sie mit
zittrigen Fingern zu Kränzen, die sie an die Stadttore und Türen hängen.
Er denkt an das junge Mädchen,
das wie eine weiße Blume aussah, das Mädchen bei Lady Anne, das sich durch die
Tür schob. Es wäre einfach gewesen, ihren Namen in Erfahrung zu bringen, nur
dass er viel zu sehr damit beschäftigt war, Mary Boleyn Geheimnisse zu
entlocken. Das nächste Mal, wenn er sie sieht... aber welchen Sinn hat es,
daran überhaupt zu denken? Sie wird aus einem adligen Haus kommen. Eigentlich
wollte er Gregory schreiben: Ich habe ein sehr süßes Mädchen gesehen, ich werde
herausfinden, wer sie ist, und wenn ich unsere Familie geschickt durch die
nächsten paar Jahre manövriere, kannst du sie vielleicht heiraten.
Das hat er nicht geschrieben.
In seiner gegenwärtigen prekären Situation wäre es auch etwa so sinnvoll wie
die Briefe, die Gregory ihm früher geschrieben hat:
Lieber Vater, ich hoffe, dass
es dir gut geht. Ich hoffe, dass es deinem Hund gut geht. Und jetzt habe ich
keine Zeit mehr und komme zum Schluss.
Lordkanzler More sagt: »Kommen
Sie zu mir und wir sprechen über Wolseys Colleges. Ich bin sicher, dass der
König etwas für die armen Scholaren tun wird. Kommen Sie bitte. Kommen Sie und
sehen Sie sich meine Rosen an, bevor sie vor Hitze eingehen. Kommen Sie und ich
zeige Ihnen meinen neuen Teppich.«
Es ist ein bedecktet, grauer
Tag; als er in Chelsea ankommt, liegt die Batke des königlichen Sekretärs dort
vertäut und die Tudor-Fahne hängt schlaff in der schwülen Luft herunter. Hinter
dem Pförtnerhaus zeigt das neu erbaute Haus aus rotem Backstein dem Fluss seine
glänzende Fassade. Er geht zwischen den Maulbeerbäumen darauf zu. Im Vorbau
unter den Geißblattgewächsen steht Stephen Gardiner. Das Gelände in Chelsea
ist mit kleinen Haustieren bevölkert, und als er näherkommt und sein Gastgeber
ihn begrüßt, sieht er, dass der Kanzler von England einen Hasen mit Schlappohren
und schneeweißem Fell hält; der Hase hängt friedlich in seinen Händen, als
trüge More Handschuhe aus Hermelin.
»Ist Ihr Schwiegersohn Roper
heute auch da?«, fragt Gardiner. »Wie schade. Ich hatte gehofft zu sehen, wie
er wieder einmal seine Religion wechselt. Ich hätte es gerne miterlebt.«
»Ein Spaziergang durch den
Garten?«, schlägt More vor.
»Ich dachte, wir erleben
vielleicht, wie er sich als der Lutherfreund, der er früher war, zu Tisch
setzt, dann aber wieder zur Kirche zurückkehrt, wenn die Johannisbeeren und
Stachelbeeren serviert werden.«
»Will Roper ist inzwischen
fest verankert«, sagt More, »im Glauben Englands und Roms.«
Er sagt: »Es ist kein wirklich
gutes Jahr für Beerenobst.«
More sieht ihn aus dem
Augenwinkel an; er lächelt. Er plaudert munter mit ihnen, als er sie ins Haus
führt. Hinter ihnen her trottet Henry Pattinson, einer von Mores Dienern, den
er manchmal seinen Narren nennt und dem er einige Freiheiten gewährt. Der Mann
ist ein Schläger; normalerweise nimmt man einen Narren auf, um ihn zu beschützen,
aber in Pattinsons Fall ist es der Rest der Welt, der Schutz benötigt. Ist er
wirklich dumm? More hat etwas Verschlagenes, er bringt Leute gerne in
Verlegenheit; es würde zu ihm passen, einen Narren zu halten, der keiner ist.
Pattinson soll von einem Kirchturm gefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen
sein. An der Taille trägt er ein geknotetes Seil, von dem er manchmal sagt, es
sei sein Rosenkranz; manchmal sagt er, es sei seine Geißel. Manchmal sagt er,
es sei das Seil, das ihn vor seinem Sturz hätte bewahren sollen.
Beim Betreten des Hauses
trifft man auf die Familie an der Wand. Man sieht sie in Lebensgröße gemalt,
bevor man sie persönlich kennenlernt; und More, der genau weiß, welch doppelte
Wirkung das erzielt, bleibt stehen, damit man sie wahrnehmen und betrachten
kann. Sein
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