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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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wird im Hause More
eine Stelle aus der Schrift vorgelesen. »Heute Abend ist Meg an der Reihe«,
sagt More.
    Er möchte mit seinem Liebling
angeben. Sie nimmt das Buch und küsst es; sie liest auf Griechisch, wobei der
Narr sie immer wieder unterbricht. Gardiner sitzt mit geschlossenen Augen da,
sieht aber nicht gottesfürchtig aus, sondern genervt. Er beobachtet Margaret.
Sie ist vielleicht fünfundzwanzig. Sie hat einen geschmeidigen, wendigen Kopf,
er gleicht dem Kopf des kleinen Fuchses, von dem More behauptet, er habe ihn
gezähmt; dennoch hält er ihn sicherheitshalber in einem Käfig.
    Die Diener kommen herein.
Immer wieder schauen sie zu Alice, während sie servieren; hier, Madam, und
hier? Die Familie auf dem Bild braucht natürlich keine Diener, sie existiert
für sich allein, schwebt an der Wand. »Esst, esst«, sagt More. »Alle außer
Aice, sie sprengt sonst ihr Korsett.«
    Sie dreht ihm den Kopf zu, als
sie ihren Namen hört. »Dieser Ausdruck gequälter Überraschung ist ihr nicht
angeboren«, sagt More. »Er wird dadurch verursacht, dass sie ihr Haar straff
zurückkämmt und ihre Kopfhaut riskiert, indem sie große Elfenbeinadeln
hineinsteckt. Sie glaubt, ihre Stirn sei zu niedrig. Das stimmt natürlich.
Aice, Aice«, sagt er, »sag mir, warum habe ich dich geheiratet.«
    »Um den Haushalt zu führen,
Vater«, sagt Meg mit leiser Stimme.
    »Ja, ja«, sagt More. »Ein
Blick auf Aice befreit mich vom Makel der Begierde.«
    Er wird sich einer Kuriosität
bewusst, als ob sich die Zeit plötzlich überschlagen oder in einer Schlinge
verfangen hätte; er hat sie an der Wand betrachtet, wie Hans sie festgehalten
hat, und hier spielen sie nun sich selbst, setzen ihre diversen Gesichtsausdrücke
der Zurückhaltung oder Belustigung auf, des Wohlwollens und der Anmut: eine
glückliche Familie. Ihm ist der Gastgeber lieber, wie Hans ihn gemalt hat; bei
dem Thomas More an der Wand kann man sehen, dass er denkt, aber nicht, was er
denkt, und so sollte es sein. Der Maler hat sie geschickt gruppiert, sodass es
zwischen den Personen keinen Platz für jemand Neues gibt. Der Außenseiter kann
nur als unbeabsichtigter Klecks oder Fleck in die Szene eintauchen; Gardiner
ist zweifellos ein Klecks oder Fleck, denkt er. Der königliche Sekretär wedelt
mit seinen schwarzen Ärmeln; er diskutiert heftig mit ihrem Gastgeber. Was
meint Paulus, wenn er sagt, dass Jesus etwas geringer als die Engel geschaffen
wurde? Machen Holländer jemals Witze? Welches ist das korrekte Wappen des Erben
des Herzogs von Norfolk? Hört man da Donner in der Ferne oder wird diese Hitze
anhalten? Genau wie auf dem Bild hat Aice einen kleinen Affen an einer
Goldkette bei sich. Auf dem Gemälde umspielt er ihren Rocksaum.
    In der Wirklichkeit sitzt er auf ihrem Schoß und
klammert sich an sie wie ein Kind. Ab und zu senkt sie den Kopf und spricht so
leise mit ihm, dass niemand anders es hören kann.
    More trinkt keinen Wein,
obwohl er seinen Gästen welchen serviert. Es gibt mehrere Gerichte, die alle
gleich schmecken - irgendwelches Fleisch mit einer klumpigen Sauce wie der
Schlamm der Themse - und danach eine Quarkspeise und einen Käse, von dem er
sagt, eine seiner Töchter habe ihn gemacht - eine seiner Töchter, Mündel,
Stieftöchter, eine der Frauen, mit denen das Haus angefüllt ist. »Man muss sie
nämlich beschäftigen«, sagt More. »Sie können nicht immer vor ihren Büchern
sitzen, und außerdem neigen junge Frauen zu Unfug und Müßiggang.«
    »Sicher«, murmelt er.
»Demnächst werden sie sich auf der Straße prügeln.« Sein Blick wird
unwillkürlich von dem Käse angezogen; er ist löchrig und schwabbelig, sieht aus
wie das Gesicht eines Stalljungen, der eine Nacht Ausgang hatte.
    »Henry Pattinson ist heute
Abend reizbar«, sagt More. »Vielleicht sollte er geschröpft werden. Ich hoffe
nur, seine Kost war nicht zu schwer.«
    »Ach«, sagt Gardiner, »ich
habe keinerlei Befürchtungen in dieser Hinsicht.«
    Der alte John More -
inzwischen muss er achtzig sein - nimmt am Abendessen teil, und sie gewähren
ihm den Vorrang im Gespräch; er erzählt gerne Geschichten. »Haben Sie je von
Humphrey Herzog von Gloucester und dem Bettler gehört, der vorgab, blind zu
sein? Haben Sie je von dem Mann gehört, der nicht wusste, dass die Jungfrau
Maria Jüdin war?« Von einem so scharfsinnigen alten Juristen erwartet man mehr,
selbst wenn er ein wenig senil ist. Dann greift er auf seine riesige Sammlung
von Anekdoten über törichte Frauen

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