Mantel, Hilary
aus dem Ruin
gerettet haben, gehen Sie nach York, seien Sie froh, am Leben zu sein ... Wenn
die Dinge anders verlaufen wären, hätte er noch zehn Jahre gelebt, das weiß
ich.«
»Wir haben nach dem
Bürgermeister und allen Amtspersonen der Stadt geschickt, damit sie ihn in
seinem Sarg sehen und keine Gerüchte aufkommen, dass er noch lebt und nach
Frankreich geflüchtet ist. Einige haben Bemerkungen über seine niedrige Geburt
gemacht, bei Gott, ich wünschte, Sie wären dagewesen ...«
»Ich auch.«
»Denn vor Ihnen, Master
Cromwell, hätten sie das nicht getan, sie hätten es gar nicht gewagt. Als das
Licht schwand, hielten wir Wache; rund um seinen Sarg brannten die Kerzen. Das
taten wir bis vier Uhr morgens, Sie wissen ja, die kanonische Stunde. Dann
hörten wir die Messe. Um sechs haben wir ihn in die Krypta gelegt. Und dort
gelassen.«
Sechs Uhr morgens, ein
Mittwoch, das Fest des heiligen Andreas, des Apostels. Ich, ein einfacher
Kardinal. Ihn dort gelassen und nach Süden geritten, um den König in Hampton
Court aufzusuchen. Welcher zu George sagt: »Nicht für zwanzigtausend Pfund
hätte ich gewollt, dass der Kardinal stirbt.«
»Passen Sie auf, Cavendish«,
sagt er, »wenn Sie gefragt werden, was der Kardinal in den letzten Tagen vor
seinem Tod gesagt hat, erzählen Sie ihnen nichts.«
George zieht die Augenbrauen
hoch. »Das habe ich bereits getan. Ihnen nichts erzählt. Der König hat mich
ausgefragt. Mylord Norfolk.«
»Wenn Sie Norfolk irgendetwas
erzählen, verkehrt er es in Hochverrat.«
»Er hat mir trotzdem meinen ausstehenden Lohn bezahlt,
er ist ja Lordschatzmeister. Ich war ein Dreivierteljahr im Rückstand.«
»Was hat man Ihnen gezahlt, George?«
»Zehn Pfund pro Jahr.«
»Sie hätten zu mir kommen sollen.«
Das sind die Fakten. Das sind
die Zahlen. Wenn der Herr der Unterwelt morgen in den Privatgemächern des
Königs erscheinen und ihm anbieten würde, einen toten Mann zurückzugeben,
frisch aus dem Grab, frisch aus der Krypta, das Wunder des Lazarus für 20 000
Pfund - hätte Henry Tudor Schwierigkeiten, die Summe zusammenzukratzen.
Norfolk als Lordschatzmeister? In Ordnung; es ist egal, wer den Titel trägt,
wer die klappernden Schlüssel in der Hand hält, denn die Truhen sind leer.
»Wissen Sie«, sagt er, »wenn
der Kardinal mich fragen könnte, was er mich immer gefragt hat: Thomas, was
hätten Sie gern als Neujahrsgeschenk?, würde ich antworten: Ich würde gerne
Einsicht in die Buchhaltung der Nation nehmen.«
Cavendish zögert; er fängt an
zu sprechen; er verstummt; er beginnt erneut. »Der König hat gewisse Dinge zu
mir gesagt. In Hampton Court. >Drei können ein Geheimnis bewahren, wenn
zwei davon fort sind.<«
»Das ist ein Sprichwort,
glaube ich.«
»Er sagte: >Wenn ich
vermuten würde, dass meine Kappe mein Geheimnis kennt, würde ich sie ins Feuer
werfen.<«
»Ich glaube, das ist auch ein
Sprichwort.«
»Er will damit sagen, dass er
keinen Berater mehr will: nicht Mylord von Norfolk und auch nicht Stephen
Gardiner oder irgendjemanden sonst, keine Person soll ihm so nahe sein, wie es
der Kardinal einst war.«
Er nickt. Die Interpretation
leuchtet ihm ein.
Cavendish sieht krank aus. Es
ist die Anstrengung langer schlafloser Nächte, in denen er am Sarg gewacht hat.
Er sorgt sich um verschiedene Summen Geldes, die der Kardinal auf der Reise
noch hatte, als er starb, jedoch nicht mehr. Er sorgt sich darum, wie er seine
persönlichen Gegenstände von Yorkshire nach Hause schaffen soll; offenbar hat
Norfolk ihm einen Wagen und Geld für den Transport versprochen. Er, Cromwell,
redet darüber, wobei er an den König denkt, und ohne dass George es merkt,
bohrt er seine Finger, einen nach dem anderen, fest in die Handfläche. Mary Boleyn
hat in seine Handfläche einen Umriss gezeichnet, er denkt: Henry, ich habe
dein Herz in der Hand.
Als Cavendish weg ist, geht
er an seine Geheimschublade und nimmt das Päckchen heraus, das ihm der Kardinal
an dem Tag gegeben hat, als er seine Reise nach Norden antrat. Er wickelt die
Schnur ab, die darum geschlungen ist. Sie verfängt sich, verknotet sich, er
bearbeitet sie geduldig. Auf einmal fällt der Türkisring in seine Handfläche,
so kalt, als käme er aus der Gruft. Er stellt sich die Hände des Kardinals vor,
die langen Finger, weiß und ohne Narben - so viele Jahre haben sie verlässlich
auf dem Steuer des Staatsschiffs gelegen; aber der Ring passt, als wäre er für
ihn gemacht.
Die scharlachroten Kleider
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